Die Juroren des neben dem Gault Millau wohl einflussreichsten Gournetmagazins „Guide Michelin“ haben gesprochen. 255 deutsche Restaurants – soviel wie nie zuvor – dürfen jetzt mindestens einen der begehrten Michelin-Sterne auf ihre Visitenkarten drucken. Damit sei Deutschland nach Frankreich das Land mit der größten Anzahl an Sternerestaurants, erklärte der Direktor des Magazins, Michael L. Ellis Anfang der Woche.
Zehn deutsche Gaststätten schafften es gar in die höchste Kategorie (3 Sterne), 36 wurden mit zweien bewertet. Traditionell sind die traditionell genussaffineren südlichen Bundesländer überrepräsentiert, aber selbst der Osten ist mittlerweile keine sternfreie Zone mehr. Frühere kulinarische Wüsten wie Berlin haben gewaltig aufgeholt, schließlich wollen die zugezogenen Funktions- und Geldeliten ebenso angemessen speisen, wie die vielen Nobeltouristen.
Nimmt man den Umfang der Medienberichterstattung über dieses Ereignis zum Maßstab, könnte man zu dem Schluss kommen, die Michelin-Sterne seien mit Nobelpreisen vergleichbar. Dabei geht es „nur“ um außergewöhnliche Gourmetkultur. Ab dem 2. Stern spielt dann noch der Schicki-Micki- und Glamourfaktor eine wichtige Rolle. Alt- und neureiche Edelesser aus allen Teilen der Welt nehmen derart geehrte Locations in ihren Eventkalender auf.
Eigentlich ist das alles ziemlich egal. Warum sollen diejenigen, die es sich leisten können, nicht ihr Geld in teuren Restaurants verprassen. Und auch für weniger Begüterte kann der dann äußerst seltene Besuch eines edlen Restaurants eine beglückende und inspirierende Erfahrung sein.
Nichts zu tun hat der Sterne-Boom allerdings mit einem Aufschwung der hiesigen Genusskultur. Denn in der Breite hat sich in vielen Teilen des Landes und auch im Bewusstsein vieler Menschen so gut wie nichts bewegt. Deutschland mag zu den Sterne-Großmächten gehören, befindet sich aber auch in Bereichen wie denaturierte Mikrowellen-Fertignahrung und Billigstfleisch in der Spitzengruppe. Was nutzt ein einsames Sterne-Restaurant in Brandenburg, wenn man in diesem Fischparadies vielerorts vollkommen zerstörte Zanderfilets mit absonderlichen Beilagen auf den Teller geknallt bekommt? Was soll man von der Genusskultur eines Landes halten, in dem Sparvorgaben dazu führen können, dass über 10.000 Kinder in Schulen und Horten mit gefrorenen chinesischen Erdbeeren vergiftet werden?
Ich wohne in Berlin-Moabit. Sterne sieht man hier nur am Himmel, einfallslose „multikulturelle“ Einheitsverköstigung dominiert das aushäusige Essgeschehen. Aber immerhin gibt es hier – wenn auch äußerst selten – noch Relikte einer längst vergangenen Speisetradition. Am kommenden Freitag werde ich jedenfalls mit ein paar Freunden in die Kiez-Kneipe „Zum Stammtisch“ gehen. Denn da macht die Wirtin wieder ihre legendären Pferderouladen mit einer fantastischen Soße und riesigen Platten voller leckerer Beilagen. 12 Euro kostet der Spaß. Sterneverdächtig ist der „Stammtisch“ natürlich nicht. Aber dafür unverzichtbarer Bestandteil einer bodenständigen Genusskultur, die nicht nut in Berlin auszusterben droht. Spitzengastronomie ohne entsprechende Basis – sei es bei häuslicher oder externer Verköstigung - ist jedenfalls ähnlich viel wert, wie eine Kreisliga-Fußballmannschaft mit Cristiano Ronaldo als Mittelstürmer.