Bis zum Abend war es ein Tag für schlechte Laune. Ab dem Vormittag wälzten sich rund 5000 hauptsächlich aus Ostdeutschland herangekarrte rassistische Vollpfosten durch die Berliner Innenstadt. Weniger bedrohlich, aber dennoch ärgerlich dann um 15 Uhr das Konzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, welches den 3. Tag des Berliner Jazzfestes eröffnete. Die drei australischen Musiker des Trios “The Necks” verfolgen seit fast 30 Jahren ein beinhartes (Geschäfts)Prinzip: Keine Kompositionen, keine Absprachen, einfach raus und spielen, egal womit, egal wo.
Wohl selten ist eine große Kirchenorgel so respektlos behandelt worden, wie dieses 1962 von der Firma Karl Schuke erbaute und 2005 sanierte 5000-Pfeifen-Meisterwerk mit seinen 256 Registerkombinationen. Nach einigen freien Tonfolgen verlegte sich Chris Abrahams darauf, nur noch schmierige und manchmal unangenehm zirpende Cluster übereinander zu türmen, denen Tony Buck und Lloyd Swanton allerlei Gezischel und Gebrumme beisteuerten. Dazu hätte auch ein Synthesizer der 100-Euro-Klasse gereicht. Während sich meine Begleiterin unangenehm an die “Eso-Kacke” in einem Yoga-Kurs erinnert fühlte, dachte ich an eine mit elektronisch verstärkten Metallplatten behängte und beständig schreiende Frau in der New Yorker “Knitting Factory” irgendwann in den 1990er Jahren. Damals wie heute gibt es aber zahlungsbereite Menschen, die derartigen Darbietungen mit verzücktem bis bis entrücktem Gesichtsausdruck folgen. Nicht nur wir suchten allerdings nach einer halben Stunde entnervt das Weite.
Am Abend besserte sich die Laune allerdings schlagartig. Der armenische Pianist Tigran Hamasyan eröffnete seinen Auftritt im mit zarten, neoromantischen Phantasien. Allmählich verlässt er diese Sphäre und begibt sich in uralte hymnische Klangwelt seiner Heimat, was teilweise ausgesprochen orientalisch anmutet. Lautmalerisch untersteicht seine Stimme die Themen, langsam steigen Schlagzeug und Kontrabass darauf ein . Doch kaum hat man sich wohlig darauf eingelassen, wandert das Trio schon in harte Metal-Gefilde, die sich wie von Geisterhand wieder in molllastiger Romantik auflösen. Und weiter geht der rastlose Ritt, immer dichter wird der Teppich von Bass und Schlagzeug von dem Hamasyan dann in freie tonale Strukturen abhebt; nix mehr Moll, sondern übermäßig und vermindert ist jetzt angesagt, auch die Rhythmik wird vertrackter, Hardbop und Modern Jazz klingen an. Dann wieder die romantische oder armenische Powerbremse und weiter gehts. Man hört, dass der 29jährige Hamasyan noch recht ungestüm auf der Suche ist, doch was er und wie er sich in der Musik bereits gefunden hat ist beachtlich und macht Appetit auf weitere Begegnungen mit diesem Pianisten.
Der Tenorsaxophonist Charles Lloyd ist dagegen jemand, der sich mit seinen 77 Jahren definitiv gefunden hat und dennoch immer weiter nach musikalischer Freiheit sucht. Behutsam leitet er sein hellwaches Sextett (u.a Eric Harland an den Drums und Gerald Clayton am Piano) durch seine 2013 entstandene “Wild Man Dancing” – Suite, ein sowohl retrospektiv als auch visionär angelegtes Werk mit sechs Sätzen. Noch immer hat Lloyd einen ganz großen Ton, mal verhalten fragend, mal rauchig-schwelgend, mal messerscharf und wütend. Und dass in seinem Sextett außer der klassischen Rhythmusgruppe auch eine griechische Kniegeige und ein ungarisches Hackbrett ihren gleichberechtigten Platz gefunden haben, zeugt von ungebrochener Lust am Neuen, zumal sich diese eher jazzuntypischen Klangerzeuger als echte Bereicherung und Erweiterung des eigenen Klanghorizonts erwiesen.
So fand ein zunächst recht schrecklicher Tag ein wunderbares Ende, noch abgerundet mit einem guten Glas portugiesischem Rotwein, einem Touriga nacional aus dem Alentejo. Aber das ist eine andere Geschichte.
CD-Tipp: Charles Lloyd: Wild Man Dance – Live At Wroclaw Philharmonic 2013