Dieser Text erschien am 21.März im „Neuen Deutschland“ und ist im Internet nur für Abonnenten einsehbar
Joachim Kühn muss niemandem mehr etwas beweisen. 1966 verließ der damals 22jährige Ausnahmepianist die DDR, die ihm musikalisch und lebenskulturell zu eng geworden war. Bald wurde er zu einer festen Größe im europäischen Jazz, spielte in unzähligen Formationen und war begehrter Gast auf den großen Festivals auch in den USA, wo sein Bruder lebt, der Klarinettist Rolf Kühn. Später zog er nach Paris und gründete mit dem Bassisten Jean-Francois Jenny-Clark und dem Schlagzeuger Daniel Humair ein besonders für das freie Spiel bahnbrechendes Trio.
Doch Kühn ist keiner für die Schubladen. Zum Selbstzweck degenerierter Free-Jazz ist ihm ebenso suspekt wie die Anbiederung an irgendwelche Trends. Groove und Spirit sind seine Essenzen, das Ausloten neuer harmonischer Räume jenseits von Dur und Moll seine Mission. Und die führt ihn in immer neue Gefilde; Mal nach Leipzig, wo er mit den Thomanern über Bach-Motetten improvisierte, mal in die nordafrikanische Wüste, wo er mit Berber-Musikern jammte und daraus später ein Projekt für eine Big Band formte, um nur einige Beispiele zu nennen.
Seit einiger Zeit lebt Kühn in einer recht abgeschiedenen Finca auf Ibiza und wird immer weiter spielen, „bis zum Umfallen“, wie er im Gespräch betont. Ideen für neue Projekte suche er nicht, denn das sei Zeitverschwendung. „Ich laufe am Strand lang, und die Ideen kommen zu mir. Das ist meine Inspiration; sobald die Füße mit dem Wasser in Berührung kommen, dann klingelt’s da oben. Wie in Trance.“
Offenbar hat es wieder mal geklingelt. Kühn hat in seiner umfangreichen Tonträgersammlung ein paar Perlen gefunden, deren „Spirit“ ihn zu eigenen Interpretionen animierte. Aus in der Urfassung der „Doors“ apokalytisch anmutenden Stücken wie „The End“ und „Riders on the Storm“ formt er elegisch-fröhliche Miniaturen, aus „Sleep on it“ von „High Stand Patrol“ wird ein angedeuteter Reggae-Groove mit bluesigen Improviationen, und selbst dem seit Jahrzehnten totgespielten Evergreen „Summertime“ von George Gershwin entlockt er ein wahres Füllhorn überraschender harmonischer Facetten. Auch Weggefährten vergangener Jahrzehnte wie dem polnischen Jazzvisionör und Filmmusikkomponisten Krzysztof Komeda wird respektvoll, aber auch voller Selbstbewusstsein Referenz erwiesen. Dazu kommen kleine, sprühende Miniaturen aus eigener Feder wie das swingende „Because of Mouloud“ oder die Ballade „Intim“. Und als Schlusspunkt schließlich der von Gil Evans komponierte „Blues for Pablo (Picasso)“, ein Stück, das eigentlich nur auf fünf Tönen basiert, aber, so Kühn, „ einen ganzen musikalischen Kosmus eröffnet“, den er in knapp neun Minuten in einem wilden pianistischen Parforceritt durchschreitet.
Es ist der leichtfüßigste, fröhlichste, groovigste und rockigste Kühn seit vielen Jahren. Mit Chris Jennings (bass) und Eric Schaefer (drums) hat er zudem kongeniale Partner gefunden. Schäfer , seit Jahren auch im Trio des neuen deutschen Jazz-Superstars Michael Wollny tätig, wechselt bruchlos zwischen harten Beats und vertrackter Polyrhythmik und schließt mitunter mitten im Stück mit einer ganz kleinen Akzentverschiebung auf der Snare-Drum eine neue musikalische Tür auf. Jennings steht dem in nichts nach und bewegt sich auf dem Kontrabass traumwandlerisch stilsicher zwischen fast peitschenden Grundtönen und singenden harmonischen Erweiterungen; alles immer genau auf den Punkt.
Mit „Beauty&Truth“ präsentiert Kühn jedenfalls eine CD mit hochenergetischer Gute-Laune-Musik. Ist das Jazz oder manchmal auch Rock? Oder vielleicht Jazzrock? Solch überflüssige Fragen stellt sich der mittlerweile 72jährige schon lange nicht mehr. Denn alles ist eigentlich ganz einfach: „Es gibt Musik, die hat Groove und Spirit und es gibt welche, die das nicht hat. Mit irgendwelchen Einordnungen kann ich nichts anfangen“.
Möge Joachim Kühn noch oft an seinem Strand entlang laufen, um dort neue Inspirationen zu finden, die er dann mit anderen Musikern und seinen Hörern teilen kann. Bis zum umfallen.
Joachim Kühn New Trio
„Beauty&Trust“
erschienen bei ACT-Music, März 2016