Was für ein Scheiß-Staat

Auf die Parteien, die den Schlamassel angerichtet haben, ist man an diesem Sonnabend auf dem Heinrichplatz nicht sonderlich gut zu sprechen. „Rollt gefälligst eure Parteifahnen ein“, hieß es vom Lautsprecherwagen in Richtung einiger Anhänger der Bündnisgrünen und der LINKEN.

Die Demonstration bewegte sich dann gemächlich in Richtung Südosten, sozusagen ins Kerngebiet des alten „SO 36“ wie dieser Teil von Kreuzberg früher hieß. Waren es zunächst nur einige Hundert, so beteiligten sich später über 2000 Menschen an dem Protestmarsch gegen die rasante Vertreibung von kleinen Kiezläden durch Miethaie und Spekulanten

Im Mittelpunkt der Demonstration standen drei Geschäfte, die man getrost als „Kiez-Institutionen“ bezeichnen kann. Das Café Filou in der Reichenberger Straße gibt es seit 20 Jahren und ist nicht nur der einzige Bäcker in der Straße, sondern mit seinem preiswerten Imbissangebot ein beliebter Treffpunkt für die Nachbarschaft. Der neue britische Hausbesitzer hat den Betreibern des Cafés zum 31 Juli gekündigt, da es nicht zu seinen Vorstellungen zur Entwicklu8ng des Stadtteils passen würde, wie er Medien gegenüber erklärte.

Schon 36 Jahre gibt es den Haushaltswarenladen Bantelmann in der Wrangelstraße, der bereits Ende März schließen soll. Auch hier haben die neuen Hausbesitzer, zwei Österreicher, bislang keinerlei Bereitschaft zu Gesprächen über einen neuen Mietvertrag zu vertretbaren Bedingungen gezeigt.

Mit einem ausgesprochen prominenten Hausbesitzer hat es der Buchladen „Kisch&Co“ in der Oranienstraße zu tun. Die von der Immobilienfirma des Multimilliadärs und „Kunstmäzens“ Nicolas Berggruen verlangte Mieterhöhung ist für die Betreiber untragbar, der Laden soll nun einer Filiale eines Brillenanbieters weichen.

In ihrem Umfeld erfahren die betroffenen Läden viel Solidarität. Dabei sei die Vernetzung der verschiedenen Kiezgruppen ein wichtiger Schritt gewesen, betonte eine Sprecherin der Gruppe „Bizim Kiez“. „Wir wollen ein vielfältiges, solidarisches Kreuzberg und keinen Tummelplatz für Spekulanten und reiche Zuzügler“ hieß es in ihrer Ansprache. Nur durch massiven öffentlichen Druck könnten die rasanten Vertreibungsprozesse wenigstens punktuell aufgehalten werden. Dass Kreuzberg nach wie vor ein Hot Spot der Gentrifizierung ist, zeigen auch geplante Großprojekte wie ein Luxushotel am Oranienplatz und der neue „Google-Campus“ für Start-Up-Unternehmen im alten Umspannwerk an der Ohlauer Straße.

Mut macht den Gruppen, dass nach monatelangen Protesten die Räumung des legendären »Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf“ in der Manteuffelstraße abgewendet werden konnte, Auch der Vermieter des Projekthauses in der Lausitzer Straße 10 hat sich mittlerweile auf Verhandlungen eingelassen.

Die Proteste werden weitergehen. Bis auf weiteres soll an jedem Samstag um 16 Uhr eine Kundgebung vor dem Laden Bantelmann in der Wrangelstraße stattfinden, für den 21.März ist eine große „Kiezversammlung“ geplant. Zudem sollen die betreffenden Hauseigentümer mit Protestpostkarten und Mails „geflutet“ und falls möglich auch „besucht“ werden

Die „offizielle“ Politik im Bezirk und auf Landesebene unterstützt zwar verbal die Bemühungen um den Erhalt der Kiezläden und will sich auch in mögliche Verhandlungen einschalten. Doch es gibt keine rechtliche Handhabe, um drastische Mietsteigerungen und die Kündigung von Gewerbemietern verhindern zu können. Man freue sich über jede Solidarität, so David Schuster vom „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ Aber man sei davon überzeugt, „dass nur der unmittelbare, breite Widerstand im Kiez derartige Vertreibungen bis hin zu Zwangsräumungen verhindern kann“.

Die Demo war ein Erfolg, die Veranstalter hatten nicht mit so viel Zuspruch gerechnet. Aber es waren immer noch viel zu wenig. Wenn es in dieser Stadt nicht bald mächtigen Aufruhr gibt, geht das soziale Gefüge komplett vor die Hunde. Ich übertreibe? In Berlin lebt jeder dritte Minderjährige von Hartz IV. Von den vielen besonders alleinerziehenden Niedrigverdienern gar nicht zu reden. Derweil explodieren die Mieten und ärmere Menschen werden aus der Innenstadt vertrieben. Noch Fragen? Danke, setzen, bzw. was unternehmen.

Doch irgendwann ist jede Demo mal zu Ende. Und noch gibt es tolle Kiezläden, wie z.B. den Köpenicker Weinladen in der Köpenicker Straße am Schlesischen Tor, eine Art Geschäft gewordener Schlag in die Fresse all jener Händler und Weinschreiber, für die Weine unter zehn Euro nichtswürdige Proll-Plörre sind. Kompetente, freundliche Beratung und schließlich der Kauf von zwei mir bislang vollkommen unbekannten Weinen: Ein kräftiger, würziger Elbling (Albana) aus der Region Romagna und ein sehr feiner trockener Gelber Muskateller vom Öko-Weingut Dr. Scholl (Rheinhessen) Für 14 Euro. Beide Flaschen! Genuss ist schließlich Notwehr.

 

 

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