Moabit ist (nicht nur) für Musikliebhaber ein ziemlich hartes Pflaster. Was einem da aus frühsommerlich-angemessen geöffneten Fenstern in der Regel entgegenschallt, müsste eigentlich Gegenstand intensiver geschmackspolizeilicher Ermittlungen sein. Und auch Besuche in durchaus liebenswerten Etablissements, wie der alten Kiezkneipe „Zum Stammtisch“ (das sind die mit den Pferderouladen) lassen sich nur ertragen, wenn man seine Ohren angesichts der berieselnden Dumpfmucke konsequent auf Durchzug stellt.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Vor meinem gentrifizierungsbedingten Zwangsauszug aus der Bredowstraße wurde ich von einem Zeitgenossen im Haus gegenüber des Öfteren mit italienischen Opern beglückt. In meiner neuen Straße wohnt ein verkannter Bielefelder Hilfsgrafiker und Entertainer (DJ Verpoorten), der den Genuss seiner John-Coltrane-Sammlung gerne mit Anwohnern und Passanten teilt. Und auch ich habe manchmal das Bedürfnis meiner Umwelt vorzuführen, wie geil „Die Kunst der Fuge“ von J.S..Bach, das Album „Play“ des Jazzrock-Titanen Mike Stern und einige Stücke der „neuen“ Jimi-Hendrix-CD sind.
Doch alles wird getoppt von einer jungen Frau offensichtlich asiatischer Herkunft. In einer Souterrain-Wohnung des Nachbarhauses übt bzw. spielt sie mitunter stundenlang Cello, und das offenbar mit großem Talent und bereits weit fortgeschrittener Ausbildung. Es erklingen mal Suiten von Bach oder Britten, mal Solokonzerte von Brahms oder Schostakowitsch und manchmal auch mir bislang unbekannte Werke. Der Sound ist auch bei mir im 4. Stock vor allem auf dem Balkon noch recht passabel. Kurzum: Ich bin begeistert!
Allerdings hat Moabit noch andere, möglicherweise gravierendere Probleme als den schlechten Geschmack vieler Bewohner. Der einst „vergessene“ Berliner Altstadtkiez ist aufgrund seiner zentralen Lage längst im Visier von Spekulanten und betuchten Zuzüglern, die in Kreuzberg und im Prenzlauer Berg nichts mehr finden. Hier ist Goldgräber- und Gentrifizierungsstimmung, und die Politik tut alles, um das zu befördern. Z.B. durch die Ausweisung des Moabiter Zentrums als Sanierungsgebiet. Alles soll ein bisschen schöner und hipper werden, was dann natürlich auch die Mieten treibt.
In Sanierungsgebieten gibt es so genannte Stadtteilvertretungen (StV), mit quasi offiziellem Status versehene, auf öffentlichen Versammlungen gewählte Gremien, deren Hauptaufgabe eine Art simulierter Bürgerbeteiligung im „Dialog“ mit dem Bezirksamt ist. Wir haben uns da als Vertreter einer örtlichen Mieterinitiative gegen Verdrängung reinwählen lassen, alle unsere acht Kandidaten waren erfolgreich. Schließlich sollte man jede noch so kleine Chance nutzen, um ein bisschen Widerstand gegen den unerträglichen SPD/CDU-Mief zu befördern, der einem aus dem Bezirksamt und der Bezirksverordnetenversammlung entgegenmümpfelt.
Doch in der StV ist es leider auch nicht viel besser. Auch hier jede Menge Möchtegern- und Nachwuchspolitiker, die sich zu Exekutoren von „Sachzwängen“, „Haushaltsplänen“ und „Verwaltungsabläufen“ berufen fühlen. Schon wurden von braven Sozialdemokraten erste Zweifel an der „Verfassungsmäßigkeit“ unserer Aktionen geäußert, wenn wir z.B. die von Mietwucher und Verdrängung bedrohten Mieter in frisch verkauften Häusern direkt ansprechen und zum Widerstand ermuntern wollen. Und schon machte mich einer gar für die politische Verfolgung seines Opas und überhaupt die politische Verfolgung in der DDR mitverantwortlich, weil ich von 1998 bis 2011 als Redakteur in einer linken Zeitung tätig war.
Das nervt zwar, ist uns aber ziemlich Wurscht. Wir versuchen einfach weiter, Mieter zu „agitieren“, verteilen Flugblätter, organisieren Veranstaltungen etc. Nicht nur Genuss ist Notwehr, auch Widerstand
Und schon am nächsten Morgen kann Moabit wieder ganz Klasse sein. Auf dem Balkon ernte ich die ersten richtig prallen Radieschen, die Cellistin spielt, die Post kommt mit einer Kiste Elbling von Stefan Steinmetz, von dem ich mir dann einige Stunden später –natürlich auch auf dem Balkon und mit Cellobegleitung – einige Gläser gönne. Dies wie es sich gehört mit ein paar Austern – die erstaunlicherweise auch in Moabit erhältlich sind, nämlich im Frischeparadies. Schließlich ist nicht nur Widerstand, sondern auch Genuss Notwehr.
Nett zu lesen. Finde mich, als “alter” Moabiter, in Vielem wieder.
Demnächst mehr.