Manchmal möchte man sofort in die Zeitung kotzen, die man gerade liest. So erging es mir am Sonntag, als ich – gefühlt das erste Mal seit zehn Jahren – den Berliner Tagesspiegel als Lektüre für die S-, und Regionalbahnfahrt nach Wandlitz erwarb. Schnell merkte ich, dass in dem wirtschaftsliberalen, pseudo-bildungsbürgerlichen Käseblättchen sogar die Bundesliga-Berichterstattung langweilig ist. Die Meinungsseite hatte es allerdings in sich. Eine in FDP-affinen Kreisen bekannte und beliebte Kolumnistin namens Ursula Weidenfeld durfte dort ihren ganzen asozialen und zynischen Rotz über Niedriglöhne ausschütten. „Wer sagt, dass würdige Arbeit erst da anfängt, wo sie ihren Mann oder ihre Frau ernährt (..) übersieht den Wert der Arbeit“, heißt es ihrer Suada gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit sei „an sich würdig“, da sie „Leben mit Sinn füllt.“ Daher sei Arbeit „auch dann würdig, wenn sie schlecht bezahlt ist“. Und viele Menschen würden eben „in einer Stunde keinen Gegenwert von 8,50 Euro erwirtschaften“.
Wir lernen: Wer aus nackter Existenznot für fünf Euro pro Stunde Hotelzimmer putzt, Supermarktregale auffüllt oder nachts Wachdienste schiebt, füllt a) sein Leben mit Sinn und hat b) nicht mehr verdient als diesen Hungerlohn. Ich freue mich, dass ich mich über solche Dreckschleudern noch richtig aufregen kann, wünsche Frau Weidenfeld für ihre Zukunft vor allem beruflich und finanziell alles Schlechte und dem Redakteur der Meinungsseite, der für diesen Mist verantwortlich ist, die baldige Arbeitslosigkeit.
Was am Wochenende auch nicht schön war: Lou Reed ist gestorben.
Einer der größten Songschreiber der Rockgeschichte, ein authentischer Chronist der Schattenseiten des American Way of Life, ein Poet der schlechten Laune und Kämpfer gegen den Optimismus, ein stoischer, zeitloser Rock’n’Roll-Performer, ein Unangepasster fehlt jetzt. Doch sein Werk hat ihn unsterblich gemacht, und das nicht nur wegen „Walk on the wild side“, „Romeo had Juliette“ und der Bananen-Platte von Velvet Underground.
Auf der Habenseite die vielleicht letzten schönen Herbsttage – und das damit korrespondierende saisonale Gemüseangebot. Der Bio-Bauer in Wandlitz bot diesmal u.a. Pastinaken und Petersilienwurzeln an. Daraus lässt sich – zusammen mit ein paar „Linda“-Kartoffeln – ein himmlisches Püree zaubern. Aber bitte nicht zerkochen, sondern lediglich dämpfen, bis alles weich ist und dann vermengen.
Für alle Niedriglöhner habe ich hoffentlich in Kürze wieder einen großartigen Weintipp. Ich warte auf die Probeflaschen vom Pfälzer Weingut Erhart. Wenn sein Spätburgunder*** 2011 auch nur annähernd so gut ist wie sein Vorgänger, dann wäre er für sechs Euro wohl das Beste, was von dieser Rebsorte in dieser Preisklasse derzeit erhältlich ist. Und nicht vergessen: Ab Mittwoch geht es hier fünf Tage ausschließlich um Jazz: Täglich frische Impressionen, Sounds und Statements vom Berliner Jazzfest.
Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.