Man sollte ein Musikfestival nicht mit allzu vielen Vorschusslorbeeren überschütten. Schließlich kommt oft vieles anders, als man denkt. Aber dem künstlerischen Leiter des Berliner Jazzfestes, Bert Noglik, scheint im zweiten Jahr seiner Regentschaft ein ganz großer Wurf gelungen zu sein. Dabei geht es weniger um die beeindruckende Ansammlung großer Namen, sondern um die musikalischen Projekte, in die diese Künstler eingebunden sind. Noglik habe ihm „nunmehr seinen dritten Traum erfüllt“, schreibt der große Pianist Joachim Kühn zu seinem Auftritt am Eröffnungsabend am 31. Oktober.
In der Tat: In seiner Zeit als Leiter der Leipziger Jazztage hatte der Kulturwissenschaftler Kühn ein bahnbrechendes Zusammentreffen mit dem Saxophonisten Ornette Coleman ermöglicht und einige Jahre später ein gemeinsames Projekt mit dem Leipziger Thomanerchor angestoßen. Nun trifft Kühn mit seinem Trio auf den Saxophonisten Pharoah Sanders, einen der wichtigsten lebenden Exponenten der spirituellen Dimension des afro-amerikanischen Jazz. Mit von der Partie sind ferner Perkussionisten aus West- und Nordafrika, die ihre Wurzeln in traditionellen Gefilden wie Voodoo und Gnawa haben. Kühn sucht mit dieser Formation den „Trance-Zustand beim Spielen“. Und wenn „das Publikum gemeinsam mit uns abheben kann, ist unsere Mission erfüllt“. Man darf gespannt sein.
Ohnehin spielen afrikanische Einflüsse eine wichtige Rolle bei diesem Jazzfest. Das sollte allerdings kein Grund sein, den geschundenen Kontinent auf eine Weise zu verklären, dass einem die Haare zu Berge stehen. Im Begleitheft zum Festival liest sich das so:
„Afrika ist im Aufbruch. Nach Jahrzehnten des Abstiegs und der schier endlos scheinenden Bilderkette hungernder Kinder und marodierender Soldaten gibt es zum ersten Mal positive Nachrichten aus dem zweitgrößten Kontinent der Erde. (..) Alle einschlägigen Indikatoren zeigen nach oben: Länder wie Ruanda, Angola und Liberia – einst Schauplätze von Genozid und Bürgerkrieg – erleben ungekannte Wachstumsraten. Ghana, Senegal, Kenia und Tansania entwickeln sich zu stabilen Demokratien“.
Und die Erde ist eine Scheibe und Lampedusa liegt auf dem Mars, möchte man hinzufügen. Dabei ist es ganz einfach: Wer singen, tanzen, trommeln, blasen oder zupfen kann, ist in Deutschland auch dann geduldet, wenn er aus Afrika kommt – wenigstens für ein paar Tage oder Wochen. Das gilt allerdings nur, wenn er mit seinen Fähigkeiten einen gewissen Marktwert erreicht hat. Dann kann er bestenfalls sogar mit öffentlichen Fördermitteln und Sponsorengeldern rechnen, sowie mit der Zahlungsbereitschaft eines geneigten Publikums. Alle anderen sollen mit bürokratischen und quasi militärischen Mitteln (FRONTEX) davon abgehalten werden, europäischen oder gar deutschen Boden zu betreten. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, riskiert sein Leben auf seeuntauglichen, überfüllten Schiffen, um Verfolgung oder auch Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen. Fischer, die in Seenot geratenen Flüchtlingen vor der italienischen Küste Hilfe leisten, müssen gar mit Strafverfolgung wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung rechnen. Wer es schafft, lebend auf der Insel Lampedusa anzukommen, muss in den meisten Fällen mit menschenunwürdiger Behandlung und späterer Abschiebung rechnen. Das gilt auch für Deutschland.
Zurück zur Musik. Afrika ist eine der wesentlichen Wurzeln des Jazz und auch heute eine wichtige Inspirationsquelle. Es ist gut und spannend, wenn diesen Wurzeln und Quellen immer wieder nachgespürt wird. Es ist noch besser, wenn dies so überzeugend geschieht, wie bei der Programmplanung des diesjährigen Berliner Jazzfestes. Doch statt im Begleitheft realitätsferne, zynische Aufschwung-Lyrik zu verbreiten, hätte man auch ein kleines Konzert mit afrikanischen und anderen Musikern im Flüchtlingscamp am Oranienplatz veranstalten können.
Hörtipp: Joachim Kühn Trio live im Teatro Comunale die Cormòns
Den eleganten Schwung von der Bratwurst zum Jazzfest muss Ihnen erstmal jemand nachmachen, Chapeau! Zumal sich andeutet, dass das hier kein übliches Musikkritiker-Blabla werden soll.