Am 2. Tag hatte das Berliner Jazzfest auf der großen Bühne eine gleichermaßen lehrreiche wie vergnügliche Veranstaltung zu bieten. Denn ein Münchener Musikprofessor und eine New Yorker Drumlegende können sich hervorragend ergänzen. Da zeigt sich die Kunstfertigkeit des Programmgestalters.
Wer hat eigentlich festgelegt, dass Improvisation auf der Bühne das entscheidende Element des Jazz sei? Improvisation kann schließlich auch im Kopf passieren und dann notiert werden, wie es bereits der große Altmeister des Jazz, Johann Sebastian Bach, eindrucksvoll demonstriert hat. Bei Michael Riessler wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Fixpunkt seiner Kompositionen für die Band Big Circle ist eine mit vorgestanzten Lochstreifen gefütterte Drehorgel. Um die dort programmierten Loops und Patterns herum gruppieren sich eine Rhythmusgruppe und ein strenger Bläsersatz, dennoch bleibt genug Freiraum für expressive Soloparts.
Riessler pfeift auf Kategorien: Jazz? Rock? Kontrapunkt? Neue Musik? Egal, Hauptsache stimmig. Der von Pierre Chariol per Handkurbel bediente High-Tech-Leierkasten ist prall gefüllt mit harmonischen und rhythmischen Pretiosen und sprüht vor musikalischem Witz. Herausragend auch Riessler perkussive Technik auf der Bassklarinette, bei der gedämpfte, harte Töne durch Klappenbewegungen erzeugt werden. Das ist groovy, das ist stimmig, das macht Spaß. – egal ob mit großer Besetzung oder im Duo
Diese Attribute kann auch Jack DeJohnette für sich in Anspruch nehmen. Der hat zudem einen großen Vorteil: Wer seit über 40 Jahren Bahnbrechendes zur Befreiung des Schlagzeugs aus der Rhythmusknechtschaft geleistet hat, braucht weder sich noch anderen etwas beweisen. Dem 71jährigen reichen ein Drumset, eine Bühne und ein paar kongeniale Kollegen, mit denen er auf Augenhöhe kommunizieren kann. Die hat er derzeit in Don Byron (clarinet, tenor sax) George Colligan (keyboard, piano, trumpet) und Jerome Harris (bass) gefunden.
Mal straight, mal elegisch, mal polyrhythmisch – Dejohnette und seine Mitspieler spielen sich die Bälle zu, jonglieren mit ihnen, loten die Strukturen der Stücke aus. und haben jede Menge Spaß dabei. DeJohnette hat immer wieder einen zweiten oder dritten Parallel-Groove in den Hand- oder Fußgelenken, Byron schwebt mit zupackendem Ton irgendwo zwischen Klezmer und Hardbop, Harris hat seine Pastorius- und Swallow-Platten gut gehört, aber längst einen eigenen Weg zu weiten harmonischen Ableitungen gefunden, Colligan sorgt für den Soundteppich und platziert zielsicher kleine Feuerwerke. Natürlich sind das alles alte Hasen, aber soviel Entspanntheit und Souveränität ist mehr als nur Routine. Und natürlich gibt es auch am Jazz-Himmel verblichene Sterne auf Nostalgietrip und/oder Absahnertour. DeJohnette und Byron gehören definitiv nicht dazu, denn sie haben immer noch viel zu sagen, und es lohnt sich, ihnen gut zuzuhören. .
Das gilt auch für heute, wenn ab 20 Uhr die “Wunderkammer XXL” des Pianisten Michael Wollny mit der Cembalisten Tamar Halperin und der hr-Bigband und anschließend das Funk-Klezmer-Hiphop Projekt “Abraham Inc” mit dem großartigen Klarinettenderwisch David Krakauer auftreten. Das Konzert ist leider ausverkauft, aber es wird in voller Länge live vom KUlturradio des rbb übertragen. Und vorher gehe ich ins Olympiastadion und hoffe, dass der himmlische Klub Schalke 04 die miesen, piefigen Hauptstadttreter von Hertha BSE plattmacht. Schließlich besteht das Leben nicht nur aus Jazz