V. Den Absprung verpasst

Es ist schon ein gewisser Kulturschock, wenn man sich gerade noch an den rohen Schlachtgesängen siegestrunkener Schalker Fussballfans beteiligt hat und dann in Michael Wollnys Wunderkammer eintaucht. Wenigstens der Geruch im Festspielhaus kam einem vertraut vor: Es müffelte wie in den Gängen des Olympiastadions penetrant nach Brat- bzw. Currywurst – eine sicherlich zweifelhafte Erweiterung des Cateringangebots der Berliner Festspiele.

In der Duo-Variante lebt die Wunderkammer von dem Überraschungseffekt, den der Einsatz diverser Tasteninstrumente mit sich bringt. Es wirkt zunächst verstörend und dann faszinierend, wie Wollnys Partnerin Tamar Halperin den barocken Sound eines Cembalos, diverse Glockenspiele und ein indisches Harmonium für Loops und die modale Skalenwelt des modernen Jazz einsetzt. Wollnys bereits bei „em“ zu beobachtende Vorliebe für fast maschinell klingende, manchmal recht rockige Figuren, clusterartige harmonische Gebilde und heftige pianistische Ausbrüche bekommt in dieser Konstellation ganz neue Farben. Manchmal gleitet dies allerdings arg ins Sphärische ab, und schließlich hat nicht jeder Jazzfreund ein Faible für esoterisch anmutende Klänge.

 Doch die Arrangements, die Jörg-Achim Keller (nicht mit dem gleichnamigen Schalker Trainer verwandt) für die XXL-Version der  „Wunderkammer“ geschrieben hat, setzen dem Ganzen im positiven Sinne die Krone auf. Sparsam, aber eindringlich formulieren die Bläser der hr-BigBand die Themen aus und holen sie auf die Erde. Und auch das streckenweise beinharte Schlagzeug von Jean-Paul Höchstädter trägt dazu entscheidend bei. Ganz großes Kino!

 Nach der Pause gab’s eine Art musikalischer Freak-Show mit Abraham Inc. Eigentlich ist die Fusion-Geschichte mit Funk, Klezmer und HipHop ein ziemlich alter New Yorker Hut. Doch wenn man für ein solches Projekt Protagonisten wie den New-Yorker-Klezmer-Pionier David Krakauer (Klarinette) und die JB Horns- Legende Fred Wesley (Posaune) gewinnt, ist gehobener Hörspaß ohne allzu viel Tiefgang garantiert. Das Konzert ließ sich auch sehr gut an.

Abraham Inc. bzw. David Krakauers New Yorker Freakshow

Die stoisch-funkige Rhythmussektion rumpelte sich angenehm bodenständig durch ihre Midtempo-Grooves, aber plötzlich gab es Gitarrenriffs zwischen Hippieseeligkeit á la Jerry Garcia und Marc-Ribot-Eskapaden. Ein lustiger Rapper erzählte dazu seine Alltagsgeschichten, Wesley blies seine Kommentare, und über allem strahlte Krakauer mit seiner manchmal klagenden, manchmal treibenden, manchmal hyperventilierenden Klarinette.  

Doch die Truppe verpasste ihren Absprung. Nach einer knappen Stunde begann die „Clap your hands and let’s have a party“-Nummer, und es wurde ein bisschen langweilig. Das betrifft auch David Krakauer. Der mag ein herausragender Klarinettist sein, doch er sollte nicht gefühlte fünf Mal meinen,  beweisen zu müssen, dass er einen Ton ohne Absetzen über eine Minute halten kann. Lustige Geschichte, aber weniger wäre mehr gewesen.  

 Eigentlich ist der Kopf nach Schalke 04, Wollnys Wunderkammer und Krakauers Klezmer-Funk-Spektakel schon ziemlich voll. Ein paar Takte wollte ich allerdings noch aus dem Quasimodo mitnehmen. Terence Blanchard setzt die große Tradition der Trompeter aus New Orleans überzeugend fort und versprühte im atmosphärisch mit Abstand besten Berliner Jazzclub  pure Energie. Mit dem Trio des polnischen Pianisten Michael Wrobewski hat er für diesen Abend auch die richtigen Partner gefunden. Auf der Bühne wird kommuniziert und improvisiert, die Schwingung stimmt. Was wäre das Jazz-Universum ohne diese Essenz.

2 Gedanken zu “V. Den Absprung verpasst

  1. Für mich war es das erste mal auf dem Berliner Jazz Fest. Ich muss sagen, alles in allem hat es mir super gefallen, was in erster Linie an ein paar grandiosen Auftritten lag. Was mir eher weniger gefallen hat, war das Publikum. Meiner Meinung war der Teil, den du als verpassten Absprung nennst (auf Abraham Inc. bezogen), einer der besten, weil endlich mal was vom Publikum kam! Was mich gestört hat: Die Verklemmtheit des Publikums! Das fing schon mit dem ‘Joachim Kühn Africa Connection feat. Pharoah Sanders’ Konzert an.
    Da kommen zwei überragende Perkussionisten aus dem Senegal und Benin, trommeln sich die Seele aus dem Leib und vom Publikum kommt nichts. Die sind in Afrika gewohnt, dass die Leute tanzen wie verrückt und hier kommt es nicht mal zustande, dass das Publikum länger als 5 Sekunden im Rhythmus mitklatscht- typisch deutsch! Gut ich hab jetzt öfter gehört, dass die Leute beim Jazz Fest sich einfach nur hinsetzen und der Musik lauschen wollen und das war schon immer so. Aber wenn dann die Musiker einen indirekt oder sogar direkt auffordern, am Konzert teilzunehmen, schäme ich mich dafür, wenn gar nichts kommt. Die freuen sich riesig, wenn das Publikum mitsingt oder mitklatsch und da kann mir niemand, aber auch niemand was anderes erzählen.
    Fred Wesley, David Krakauer und Co. haben es dann zwar geschafft, den ganzen Saal zum stehen zu bringen, aber das auch erst nach ganz vielen Anläufen…und mal ganz ehrlich, dieses Konzert hat doch am meisten Spaß gemacht. Darauf sollte es ankommen.
    Ein Teil des Publikums, hat in jedem Fall das deutsche Spießbürgertum widergespiegelt. Ein anderer großer Teil, hat immerhin beim Abraham Inc. Konzert, gezeigt, dass es auch anders geht!

  2. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch mir geht die Steifigkeit des Jazzpublikums manchmal gehörig auf die Nerven. Auch ich freue mich über Acts, die das Publikum zum Tanzen bringen. Auch ich fand Abraham Inc samt Krakauer sehr spaßig und erfrischend. Aber gegen Ende wurde das alles leider arg redundant.