Die Zwitterexistenz als Politik- und Weinjournalist treibt manchmal seltsame Blüten. Da gibt es Tage, an denen man sich zunächst mit dem gesetzlichen Mindestlohn und seinen vielen Schlupflöchern beschäftigt, um anschließend eine Champagnerverkostung im Nobelrestaurant VAU am Berliner Gendarmenmarkt zu besuchen.
Das mit dem Mindestlohn ist eine Riesenschweinerei. Langzeiterwerbslose dürfen auch künftig für Hungerlöhne schuften, ganze Branchen, wie z.B. die fleischverarbeitende Industrie und das Friseurhandwerk sind bis 2017 ausgenommen, für Erntehelfer und Zeitungsboten droht ähnliches. Und eine Umsetzung des Mindestlohns bei den über 7 Millionen Minijobbern ist kaum möglich.
Im VAU sitzen in der Regel diejenigen, die für solche Sauereien verantwortlich sind oder sie zumindest richtig finden. Ohnehin fand die Verkostung auch nicht im Saal des Sterne-Tempels, sondern im ehemaligen Kohlenkeller des Gebäudes statt. Doch was Alice Paillard dort aus dem Angebot ihres Vater Bruno Paillard präsentierte, war alles andere als unterirdisch. Die acht Jahrgangschampagner und Cuvées zeigen die Handschrift eines sehr eigenwilligen Winzers, dem Mainstream – Schaumweine offenbar ein Gräuel sind. Die Weine lagern nach der ersten und zweiten Gärung sehr lange auf der Hefe und bekommen kaum Zuckerdosage – sind also konsequent trocken, haben einen gewissen Schmelz und sind eine echte Hruasforderung für die Geschmacksknospen Wunderbar werden in den Cuvées die Facetten der verschiedenen Chardonnay- und Pinot-noir-Lagen herausgearbeitet, mal in Richtung Zitrusfrüchte, mal eher waldbeerig und manchmal auch steinig – rauchig. Nach den gefälligen „champagner-typischen“ Brioche- und Trockenfrucht-Aromen wird man vergeblich suchen.
Die Verkostung machte Spaß. Doch es bleibt ein exklusives Vergnügen, bestimmt nichts für Bezieher von Mindestlöhnen. Champagner von Paillard kostet zwischen 29 und rund 200 Euro pro Flasche. Ich habe nichts dagegen, dass es so etwas gibt. Ich finde es auch nicht schlimm, dass sich das nicht jeder (meine Person eingeschlossen) leisten kann. Mich kotzt allerdings an, dass es eine reiche Ober- und eine begüterte Mittelschicht gibt, die alles tut, um ärmere Menschen in unserer Gesellschaft auf menschenverachtende Weise von angemessener sozialer Teilhabe auszuschließen und gleichzeitig ihren Luxus zelebriert. Irgendwas stimmt mit der Verteilungsgerechtigkeit nicht, wenn sich manche Zeitgenossen kistenweise Champagner oder Mehrgänge-Menüs im VAU leisten können, während 1,5 Millionen Menschen in Deutschland auf die überschüssigen Lebensmittel angewiesen sind, die von den Tafeln verteilt werden. Champagner und Top-Gastromie: Ja! Aber eben auch auskömmliche Löhne und eine anständige Grundsicherung, sonst wird es asozial.
Immerhin: Die Verkostung war ein schöner Anlass, um auf Uli Hoeness anzustoßen, der jetzt endlich im Knast sitzt. Mögen ihm noch möglichst viele Gesinnungs- und Tatgenossen folgen.
“sonst wird es asozial” – es IST asozial!
Danke für den Text, sagt der Schirrmi der keinen Champagner trinkt