Es ist wohl einer jener Momente, die es nur auf dem Bachfest in Leipzig gibt. Auf der Bühne auf dem historischen Marktplatz groovt sich am Freitag abend das LeipJAZZig-Orkester durch einige Themen von Johann Sebastian Bach. Schließlich betritt Martin Petzolddie Bühne, ein Star-Tenor der wenige Stunden zuvor noch beim Eröffnungskonzert des Festivals in der Thomaskirche aufgetreten war.
Doch hier kosten die Karten nicht bis zu 102 Euro, vielmehr ist umsonst und draußen angesagt. Pätzold singt Rezitativ und Arie aus einer Kantate. „Heuchler, die von außen schön,können nicht vor Gott bestehn“ schallt es über den Platz, zwischendurch improvisiert ein Gitarrist im Stil von John Scofield über das Thema und Petzold lässt sich sichtbar beseelt von der Band durch diese Demonstration der Zeitlosigkeit spätbarocker Kantaten Bachs tragen. Großartig!
Es der Eröffnungsabend des Festivals. Die Stadt hat ihr großes Erbe angenommen und pflegt es. Das Bach-Archiv gehört zu den wichtigsten Forschungsstätten seiner Art, die Stadt ist von einem regen Musikleben geprägt, das jährliche Bachfest macht sie an zehn Tagen im Juni mit über 100 Veranstaltungen zum Mekka der Musikwelt. Natürlich gibt es auch andere Festivals alter Musik, auf denen sich die Elite dieses Genres präsentiert, doch Leipzig kann darüber hinaus mit den historischen Spielstätten der Bach-Ära punkten – und natürlich mit dem Thomanerchor.
In diesem Jahr ist das Fest besonders Bachs 1714 geborenen zweitältester Sohnes Carl Philipp Emanuel (C.P.E.) gewidmet, der bis weit ins 20. Jahrhundert nicht die Wertschätzung erfuhr, die seiner epochalen Bedeutung als Wegbereiter der Klassik gebührt. Sein 300. Geburtstag war für das Bach-Archiv Leipzig ein willkommener Anlass, C.P.E bei der diesjährigen Ausgabe des Bachfestes gleichberechtigt neben seinen Übervater zu stellen, der in der Stadt von 1722 bis zu seinem Tod 1750 als Thomaskantor wirkte. Die „Wahre Art“ lautet das Motto, welches einem 1753 erschienenen Standardwerk von C.P.E. Bach über das Klavierspiel entlehnt ist. Gerade die Klavierkonzerte und -sonaten von C.P.E. mit ihren „unerhörten“ Synkopen und harmonischen Wendungen klingen wie Boten einer neuen Zeit, eines „galant-empfindsamen“ Musikstils, der den Weg aus der spätbarocken Strenge wies. Doch noch immer gilt die Epoche zwischen Bach und Mozart bei vielen Musikfreunden zu Unrecht als eine Art schwarzes Loch. Leipzig hat seinen „verlorenen Sohn“ C.P.E., der die Stadt 1734 verließ und sich 1750 und 1755 vergeblich um das Thomaskantorat bewarb, jedenfalls gebührend rehabilitiert.
Das Fest und seine in der ganzen Innenstadt spürbaren Schwingungen machen einfach gute Laune. Irgendwie passen auch zwei Straßenmusiker, die am Sonnabend in einer Einkaufpassage eine fröhlich-kräftige Version von Tom Pettys „Free fallin’“ zum Besten gaben, hervorragend dazu. Und selbst alte Agnostiker wie ich gehen gerne zu einer der zahllosen Metten und Motetten in die Kirchen, um die Musik auf sich wirken zu lassen. „Bach ist ein Garant für Zuversicht, für Hoffnung und Trost“ hatte Petzold auf dem Marktplatz gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wer Zeit hat, sollte der Bachstadt Leipzig in den kommenden Tagen (das Fest endet am 22.Juni) jedenfalls einen Besuch abstatten, er wird es nicht bereuen.