Der 9. November ist sicherlich der schrägste Gedenktag, den Deutschland zu bieten hat. Gefeiert wird der 25. Jahrestag des „Wunders von Berlin“, wie der Mauerfall im Moment gerne genannt wird. Alles wird aufgeboten: Ein seniler, keifender Ex-Liedermacher namens Wolf Biermann im Deutschen Bundestag, 8000 gasgefüllte, beleuchtete Luftballons entlang des alten Grenzverlaufs und diverse Pop-Schranzen am Brandenburger Tor.
Das ist praktisch. Denn es hilft, einen anderen 9.November nur noch verschämt am Rande erwähnen zu müssen. Denn 1938 verwüstete die SA, vielerorts unterstützt von einem entfesselten Mob, Synagogen und Geschäfte. Derzeit wird jeder, der mindestens 30 Jahre alt und nicht bei 3 auf einen Baum geflüchtet ist, von nervigen Reportern gefragt, wie er denn dem 9.November 1989 erlebt hat. Die Antworten verdichten sich dann zu einer Welle der glückseligen Nostalgie. Wer in den 1960er und 1970er Jahren seine Eltern und Großeltern fragte, wie sie denn den 9.November 1938 erlebt haben, bekam oftmals gar keine oder eher einsilbige Antworten.
Nun bin ich weit davon entfernt, jeden reaktionären Furor mit dem Terror der Nazis zu vergleichen, weil dies eine Verharmlosung des Faschismus bedeuten würde. Doch der Mob ist eine sehr deutsche Konstante, und da passt es gut, dass im Vorfeld des diesjährigen 9.November eine unglaubliche Hetzkampagne gegen eine Gewerkschaft und ihren Vorsitzenden losgetreten wurde. Dabei hat die GDL nur das gemacht, wofür sie da ist und was ihr gutes Recht ist: Anständige Tarifverträge für ihre Mitglieder einzufordern, um die unerträgliche Überstunden- und Schichtbelastung des Fahrpersonals einzudämmen. Dem Pöbel mit und ohne Nadelstreifen ist dies ein willkommener Anlass, entweder Gewaltphantasien öffentlich zu formulieren oder das Streikrecht einschränken zu wollen. Und so manch „Streikopfer“ hätte bestimmt liebend gerne am 9.November die GDL-Zentrale verwüstet oder wenigstens Claus Weselsky zusammengeschlagen, wie einschlägigen Internetforen zu entnehmen ist. Beides ist nicht ganz einfach, und so wird sich dieser Abschaum damit begnügen, an diesem Tag die deutsche Einheit zu feiern. Das kann man in gewisser Weise als Fortschritt ansehen, denn anders als am 9.November 1938 finden Pogrome wenigstens zur Zeit „nur“ noch im Kopf statt.
Auch das gehört zur Betrachtung des vereinigten Deutschlands 25 Jahre nach dem Mauerfall. Denn das Ende der DDR war mehr als Reisefreiheit, D-Mark und Bananen satt. Das vereinigte Deutschland führt wieder Angriffskriege und hat einen gigantischen Armutssektor geschaffen, der weit über Hartz-IV-Bezieher hinausgeht. Früchte der Einheit sind nicht nur, aber auch entvölkerte Landstriche in Nordbrandenburg und vollkommen heruntergekommene Städte in Nordrhein-Westfalen.
Wenn morgen die 8000 beleuchteten Luftballons aufsteigen, bin ich schon weg. Es wird nach der Hektik der letzten Wochen mal wieder Zeit, guten Wein zu trinken und gut zu essen. Und das im Ausland, denn der 9.November in Deutschland ist was für Masochisten.
Nochmal zur GDL: Mit ihrer Streikverkürzung hat sie meines Erachtens Souveränität und taktisches Geschick bewiesen. Bin gespannt wie es weiter geht. Wer schon immer mal wissen wollte, worum es bei diesem Konflikt eigentlich geht, sollte meinen Artikel lesen, der gestern abend bei hintergrund.de veröffentlicht wurde.
Man könnte noch ergänzen, dass Philipp Scheidemann am 9.11.1918 die Republik ausrief und dass – knapp daneben – am 8.11.1939 Georg Elsers Attentat auf Hitler scheiterte. Dieses Deutschland scheint’s echt zu haben mit diesem Datum…
So wird Geschichte umgeschrieben….wen interessiert noch die Kristallnacht?
Die “Freiheit” hat am 9.11. gesiegt. und verhöhnt werden in Talkshows wie JAUCH noch diejenigen, die für eine “bessere” sozialistisch-demokratische DDR vor der Wende den Arsch riskiert hatten. Diese Forderungen waren ja “unrealistisch”. Willkommen in der neuen Freiheit! Und Gorbi darf den mahnenden Pausenclown spielen.