Wenig Grund zum Feiern

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit. Die politische Klasse zelebriert sich auf zahlreichen Events, das Volk darf sich – da arbeitsfrei – bei Bier, Bratwurst und Rummel verlustieren.

Ich habe keinen Grund zum Feiern. Der Fall der Mauer bedeutete nicht nur das Ende des gescheiterten sozialistischen Experiments in der DDR, sondern auch das Ende des  rheinischen Wohlfühlkapitalismus westdeutscher Prägung. Die Ostdeutschen bekamen nicht nur Reisefreiheit, bürgerliche Demokratie, Bananen satt und Zugang zu „modernen“ Autos und billigem Elektronikschrott,  sondern auch die umfassende Deregulierung der Lebensverhältnisse. Der Traum von D-Mark und Freiheit endete für Millionen Menschen als Bittsteller bei den Hartz-IV-Ämtern. Und es dauerte auch nicht lange, dann zog das erstarkte Deutschland wieder munter in den Krieg.

 

Wie gesagt: Zum Feiern gibt es keinen Grund, aber ich will auch nicht nur jammern. Der Fall der Grenze eröffnete mir als Westberliner Mauerkind neue Horizonte und auch einen Gewinn an Lebensqualität. Nicht unbedingt materiell, da mit der „Wende“ auch die zunehmende Prekarisierung der Arbeits- und Wohnverhältnisse einherging. Aber die zuvor verwehrte Möglichkeit, einfach mal auf’s Fahrrad zu steigen und das Umland zu erkunden, macht einiges wett. Über Brandenburg und seine Bewohner wird – nicht ganz zu Unrecht – viel gespottet. Dennoch ist und bleibt es eine Region mit vielen schönen Facetten: Herrliche Alleen, Wasser ohne Ende und trotz der kargen Böden ein Füllhorn saisonaler regionaler Genüsse.

 

Es gibt sicherlich wichtigere Dinge im Leben. Aber ohne Maueröffnung wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, leckeres Streuobst zu sammeln und einzuwecken. Ich hätte auch keinen Garten mit einem großen Kräuter- und Gemüsebeet anlegen können. Ich bin ein Großstädter. Aber ohne diese Regulative könnte ich den urbanen Wahnsinn wohl kaum noch ertragen. So gesehen, bin ich ein Wendegewinner

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