Das Bachfest endete für mich am Montag so, wie es am Freitag begonnen hatte: Mit einem Orgelwerk von Johann Sebastian Bach. Dazwischen lagen unter anderem drei Mal Thomanerchor, ein Konzert mit Leipziger Kantaten, spannende Kammermusik für Viola, Violoncello und Klavier , angestrengt wirkende chinesische Kinder in einem Chorprojekt, Jazz auf dem Marktplatz – und eines der größten Konzerte, die ich je erlebt habe.
Letzteres entzieht sich fast der Beschreibung. Was passiert, wenn ein im wahrsten Sinne des Wortes von der Alten Musik beseelter Musiker und Forscher wie Sir John Eliot Gardiner zwei der größten Werke aus der Gattung „Sterbemusik“ aufführt? Wenn ihm mit dem dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists zwei der zweifellos besten Gesangs- und Instrumentalensembles dieses Genres zur Verfügung stehen. Wenn dazu noch Solisten kommen, die dem altbackenen Kantatentext von J.. Bachs “Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl” und der lateinischen Liturgie von W.A. Mozarts Requiem eine zeitlose Würde und Intensität verleihen.
Das war nicht einfach ein Konzert in der Nikolaikirche im Rahmen des Leipziger Bachfestes. Das war ein spirituelles Erlebnis, ein tiefes Ausloten von Trauer, Zweifel, Mut, Kraft und Zuversicht. Ein Orchester, das spricht, singt und Bilder malt, ein Chor der flüstert, schwelgt, jubiliert und alle Register einer überdimensionalen Orgel zieht. Solisten, die eins werden mit ihren Parts und ein Dirigent, der dies alles zu einem nur schwer fassbaren Gesamtkunstwerk zusammenfügt.
Überhaupt war dieser Sonntag einer jener Tage, für die ich das Bachfest so liebe. Am Morgen ein Gottesdienst auf dem Marktplatz mit Posaunenchor und strahlenden Thomanern, die einen die langweilige Predigt sofort unter “Werbeeinblendung“ abbuchen lassen. Am Mittag drei junge, dennoch bereits renommierte Musiker (Johannes Pennetzdorfer (Viola), Mischa Meyer (Violoncello) , Caspar Frantz ((Klavier)), die in der intimen Atmosphäre der alten Handelsbörse einige spannende kammermusikalische Miniaturen zum Besten gaben – wenn man mal von dem Mozart-Langweiler am Anfang absieht. So bekommen Stücke, die Bach für Violine solo komponiert hatte, durch die Interpretation mit der eine halbe Oktave tierfer gestimmten Viola einen ganz anderen Charakter, wirken vor allem wärmer. Außergewöhnlich auch die an polnische Volkslieder angelehnten Variationen von Witold Lutoslawski und schließlich noch ein schwung- und kraftvolles a-moll-Trio von Johannes Brahms. Zwischendurch schlendert man durch die Innenstadt, saugt die irgendwie bachgeschwängerte Stimmung auf und freut sich auf das große Abendkonzert (s.o.) Ausklang dann wieder auf dem Marktplatz, wo sich ein leider nur mäßig inspiriertes Klaviertrio an der Verjazzung von barocken Themen abarbeitete. Doch ein Bachfest, das nur aus Highlights bestehen würde, könnte kein Mensch aushalten.
Vor der Rückfahrt nach Berlin stand am Montag früh noch ein Abstecher zur Lutherkirche am Johannapark an, die mittlerweile so eine Art musikalisches Wohnzimmer der Thomaner ist, auch weil sie in der Nähe ihren Ausbildungscampus haben. Es gab eine Mette, also eine Art musikbetonten Gottesdienst mit Orgelstücken, kurzer Bibellesung (aber keine Predigt), Gemeinde- und Chorliedern sowie zwei Motetten. Also keine Showveranstaltung für das Bachfest, sondern das „Brot- und Butter-Geschäft“ des Chores. Und wenn die Knaben und Jugendlichen ein- und auslaufen, schaut man in wache, fröhliche, manchmal gar lachende Gesichter. Gedrillte Nachwuchsvirtuosen sehen jedenfalls anders auch. Und auch der amtierende Interims-Thomaskantor Gotthold Schwarz ist sich nicht zu schade, beim Kirchenlied kräftig mit der Gemeinde zu singen.
Ich bin kein Christ, aber man muss kein Christ sein, um diese Art des Gottesdienstes als angenehm und angemessen empfinden zu können. Und man hat einen Grund mehr, diesen Abschaum zu verachten, der unter Berufung auf das „christliche Abendland“ nicht nur in Leipzig, aber dort besonders schrill, regelmäßig mit seinen rassistischen Parolen durch die Stadt marschiert.