Durchgepustet

Das haben wir gebraucht. Eine kleine Ferienwohnung unterm Dach mit Blick auf die Nordsee, heftig durchpustern lassen auf dem Deich und im Wattenmeer, kilometerweit nur blökende Schafe, das beeindruckende Wechselspiel der Gezeiten, bizarre Wolkenformationen und spektakuläre Sonnenuntergänge. Dazu frische Krabben am Hafen und abends frischer Fisch oder Salzwiesenlamm im erstaunlich guten Restaurant „Zur Nordsee“direkt am Deich in Norderhafen.

Im Watt gibt es kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung

Nordstrand ist eine ruhige, dünn besiedelte Halbinsel nahe Husum ohne nervigen touristischen Schnickschnack, obwohl ein Großteil der Bewohner von den Feriengästen lebt. Leben muss, sollte man sagen, denn der Fischfang spielt hier kaum noch eine Rolle, wenn man mal von dem einzigen hauptberuflichen Krabbenfischer absieht. Doch mit den schwimmenden Fischfabriken und Riesentrawlern können die Küstefischer schon lange nicht mehr konkurrieren. In vielen Restaurants werden Schollen, Seelachs, Seezungen, Rotbarsch, Makrelen etc. angeboten, doch sie kommen aus Dänemark oder vom Kieler Fischgroßmarkt – was der Frische und Qualität aber keineswegs abträglich ist. Auch ohne kommerzielle Küstenfischerei bleiben Nordstrand und die vorgelagerten Inseln und Halligen Fischparadiese.

Den alltäglichen Wahnsinn kann man hier trotz TV und Internetanschluss für ein paar Tage ein bisschen beiseite drängen . Randalierender Abschaum in Heidenau, Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, 71 erstickte Flüchtlinge in einem LKW in Österreich und das zynische Politikergebrabbel dazu wirken wie Nachrichten aus einer anderen Welt. Auf Nordstrand gibt es keine Flüchtlingsunterkünfte, und ich möchte lieber gar nicht so genau wissen, wie so manch Inselbewohner auf entsprechende Pläne reagieren würde. Hier regiert der „Blanke Hans“, wie die Nordsee genannt wird, und nur mit aufwändige Deichbauten hat Nordstrand eine Chance, dem Klimawandel wenigstens eine Zeitlang zu trotzen. Auch derzeit wird der äußere Deich in einigen Abschnitten wieder modernisiert und erhöht.

Es sind manchmal ganz kleine Episoden, die von so einem Urlaub haften bleiben. Da wäre der Zugführer, der sich auf der Rückfahrt von Husum nach Itzehoe mit den Worten „Danke, dass sie noch mit der Bahn gefahren sind“ verabschiedet. Er hat tatsächlich „noch“ gesagt, was einiges über das angekratzte Selbstbewusstsein der Eisenbahner aussagt. Auch die Fahrt im ICE von Hamburg nach Berlin werde ich so schnell nicht vergessen. Denn die Verpackung meiner im Husumer Kutterhafen erstandenen, mit Eiswürfeln gekühlten Krabben erwies sich als unzureichend. Dies stellte sich heraus, als sich ein kleines Rinnsal Krabbenwasser aus meinem Rucksack von der Gepäckablage auf meine Sitznachbarin ergoss. Dankenswerterweise reagierte sie darauf mit Humor und nahezu buddhistischer Gelassenheit – ein sicherlich äußerst seltener Glücksfall, denn wer lässt sich während einer Zugfahrt schon gerne mit fischiger Brühe beträufeln. Später sorgten Rucksack samt Jacke dafür, dass auch die Fahrgäste im Bus, der mich vom Bahnhof nach Hause brachte, sowie die Kunden in dem Supermarkt, in dem ich noch ein paar Einkäufe erledigen musste, ziemlich einfach bestimmen konnten, wo ich gerade herkomme. Nichtsdestotrotz habe ich die Krabben später auf meinem Balkon meditativ gepult und den Schalensud zu einem köstlichen Fonds eingeköchelt, bevor ich mich an die gründliche Reinigung meiner kontaminierten Utensilien machte.

Jetzt bin ich wieder hier – und es ist nicht wirklich schön. Es ist drückend heiß in Berlin und es weht kein Lüftchen. An der Spree ist die Hölle los, die Untertanen dürfen sich die Räumlichkeiten des Kanzleramtes und einiger Ministerien anschauen, und jeder hofft wohl, zu den Seligen zu gehören, die gar einen Händedruck von Mutti oder einem leibhaftigen Minister abgreifen können. Ein paar hundert Meter weiter campieren Flüchtlinge in den Moabiter Grünanlagen, die warten müssen, bis ihnen die nahe gelegene zentrale Aufnahmestelle vielleicht am Montag eine Unterkunft zuweist. Denen schütteln Mutti und ihre Minister bestimmt nicht die Hände.

Ich merke schon, ich bin auch mental wieder hier. Aber die erholsame Woche in Nordfriesland kann mir niemand mehr wegnehmen.

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