Eigentlich kann ich die Reportagefloskel von den „großen sozialen Gegensätzen auf engstem Raum“ nicht mehr hören. Doch zu meinem Heimatbezirk Berlin-Moabit fällt mit derzeit auch nichts Besseres ein.
Nehmen wir den gestrigen Montag. Mit einer Einladung des Verbandes Deutscher Prädikatsweinwinzer (VDP) in der Tasche machte ich mich mittags auf zu den „Bolle-Festsälen“, einer angesagten Event-Location in den Räumen einer alten Berliner Meierei am Spreebogen. Die „GroßeLage-Tour“ stand an, eine Präsentation des aktuellen Weißweinjahrgangs (und einiger anderer Weine) von 117 deutschen Spitzenwinzern. Für mich führte der kurze Weg dorthin durch den Kleinen Tiergarten. Die dort seit Jahrzehnten ansässige Trinkerszene hat inzwischen ein eigenes Areal am Rand des Parks. Neu sind die vielen Flüchtlinge, manchmal ganze Familien, die in dem Park mit ihren paar Habseligkeiten teilweise auch nachts die Zeit verbringen, bis sie endlich im nahe gelegenen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) registriert und in eine Unterkunft eingewiesen werden.
Die wenigsten Besucher der nur einen Steinwurf entfernten „GroßeLage-Tour“ werden davon etwas wissen oder gar mitbekommen haben. Für die Sommeliers, Gastronomen, Händler und Weinschreiber ging es um probieren und Kontakte pflegen. Hier sind hauptsächlich diejenigen, die sich professionell mit Weinen beschäftigen, die gerne 30-60 Euro pro Flasche (oder außerhalb Deutschlands auch mehr) kosten dürfen. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Keinem Flüchtling und keinem Hartz-IV-Empfänger ginge es besser, wenn es derartige Veranstaltungen und Locations nicht gäbe. Dennoch macht der gerne zur Denunziation von Migranten eingesetzte Begriff „Parallelwelten“ hier besonders viel Sinn.
Natürlich habe auch ich mit Interesse und teilweise Begeisterung probiert und mich mit einigen Winzern unterhalten. Zwar wirken viele 2014er noch recht verschlossen, doch man kann bereits erahnen, dass dies in einigen Regionen ein großer Riesling-, Silvaner- und auch Weißburgunderjahrgang war bzw. werden wird.
Fünf Minuten sind es von den Bolle-Festsälen bis zum LaGeSo, wo an manchen Tagen über 1000 Flüchtlinge neu ankommen und sich mit jenen mischen, die schon seit Tagen auf ihre Registrierung warten. Seit Wochen bemüht sich sich die Initiative „Moabit hilft“ um all jene Belange, bei denen die Behörden komplett versagt haben. 70-100 ehrenamtliche Helfer sind stets vor Ort, mittlerweile hat man Räumlichkeiten für die Annahme und Verteilung von Spenden und die Organisation der Hilfe auf dem Gelände bekommen. Es herrscht kreatives Chaos, aber irgendwie funktioniert es. Stets sind kleine Trupps unterwegs und bieten den oftmals vollkommen erschöpften Wartenden kalte Getränke, Obst und Snacks an. Wenigstens für warme Mahlzeiten hat der Senat mittlerweile gesorgt und einen professionellen Caterer beauftragt.
Die Spendenbereitschaft ist enorm. Die klassischen Sachspenden (Kleidung, Spielzeug etc.) können gar nicht mehr entgegengenommen werden, auch Lagermöglichkeiten für Lebensmittel und Hygieneartikel quellen über. Die Initiative versucht via Internet, zielgerichtet um Spenden zu bitten. Derzeit werden beispielsweise gebrauchte Handys und Laptops, aber auch Regenkleidung benötigt. Oder alle Arten von BVG-Fahrkarten. Denn was soll eine Familie machen, die vollkommen mittellos in eine Notunterkunft am anderen Ende der Stadt geschickt wurde, aber die notwendigen Behördengänge in der City erledigen muss. Auch Übersetzer werden gesucht, vor allem für Arabisch, Kurdisch und noch weniger geläufige Sprachen
Natürlich nimmt man auch gerne Geldspenden, mit der notwendige Dinge von den Helfern direkt besorgt und organisiert werden können. Und auch die kommen seit Tagen ziemlich reichlich. „Moabit hilft“ ist mittlerweile bundesweit bekannt und schon so etwas wie ein Synonym für die viel beschworene „Willkommenskultur“. Längst klopfen auch Firmen an, die ihre Spenden pr-mäßig ausschlachten wollen. Wenn die Summe stimmt, lässt man sich auch gerne darauf ein. Nur vor den Karren von irgendwelchen Verbänden, Parteien und einzelnen Politikern will man sich keinesfalls spannen lassen, obwohl die mittlerweile ebenso Schlange stehen, wie Journalisten und TV-Teams.
Jeder weiß hier, dass diese intensive Form der ehrenamtlichen Arbeit nicht auf Dauer durchzuhalten ist. Entsprechend deutlich sind die Forderungen anden Senat und die Bundespolitik, endlich die notwendigen Ressourcen für eine angemessene Betreuung der Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Doch diese Mühlen mahlen langsam, manchmal seeeehr langsam. So hat es das LaGeSo trotz des unngebrochenen Zustroms nicht geschafft, einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb für die Erstregistrierung auf die Beine zu stellen. Auch deswegen campieren viele Flüchtlinge in den Moabiter Parkanlagen.
Nach dem Besuch bei “Moabit hilft” im LaGeSo war mir irgendwie die Lust vergangen, nochmal bei der „GroßeGewächse-Tour“ vorbei zu schauen. Guten Wein habe ich schließlich auch zu Hause, und den brauchte ich am Abend dieses Tages.