Vor 66 Jahren wurde die DDR gegründet, der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden. Das war eine ziemlich gute und angesichts der Erfahrungen mit dem Faschismus auch naheliegende Entwicklung. Die Sache ist bekanntlich gründlich schief gegangen. Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ließen eine gedeihliche Entwicklung dieses Staates nicht zu, die beträchtlichen sozialen Errungenschaften wurden durch einen bis ins Absurde reichenden Kontrollwahn des Führungsapparates konterkariert, die dogmatische Realitätsverweigerung war stellenweise nur noch lächerlich. Als Wessi, der 12 Jahre als Redakteur der Ostberliner Sairezeitung „Junge Welt“ eine Art Bonsai-DDR genießen durfte, weiß ich (zumindest ein bisschen), wovon ich rede. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Mehrheit der DDR-Bürger diesen Staat in dieser Form nicht mehr wollten. Ob sie das wollten, was sie dann bekamen, ist eine andere Frage.
Das Scheitern der DDR ist insofern tragisch, weil es sich tagtäglich beweist, dass eine Gesellschaftsordnung, in der die Herrschaft des Großkapitals gebrochen wird, eigentlich auf der Tagesordnung stehen müsste. Kapitalismus heißt in Deutschland eben nicht nur ein gewisses Maß an bürgerlichen Freiheiten und relativer Wohlstand für große Teile der Gesellschaft. Sondern auch Armut und soziale Ausgrenzung für Millionen, Entsolidarisierung, Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten, brutales ökonomisches Dominanzstreben in Europa, Umweltzerstörung aus Profitinteresse. Abhilfe ist leider nicht in Sicht, diese Politik ist im Großen und Ganzen mehrheitsfähig, eine relevante gesellschaftliche Strömung für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen (Macht)verhältnisse ist nicht erkennbar. Und bei der nächsten Wirtschaftskrise wird der zivilisatorische Lack dieser Gesellschaft noch weiter abbröckeln, in einem Ausmaß, das ich mir gar nicht ausmalen mag.
Von den linken Debatten über die großen politischen Entwürfe habe ich mich verabschiedet, sie erscheinen mir wenig realitätstauglich. Ich versuche mich materiell über Wasser zu halten (was als freier Journalist gar nicht so einfach ist) und mische mich hier und da ins Geschehen ein, sowohl publizistisch, als auch bei Mieterinitiativen in meinem Wohnbezirk. Ich werde am Sonnabend auch auf die große Anti-TTIP-Demo gehen, denn dieses „Freihandelsabkommen“ zwischen den USA und der EU ist der blanke Horror. Und ich genieße meine kleinen Freuden des kapitalistischen Alltags: Gute Konzerte, guter Wein, gutes Essen, ein paar Reisen, mein (ironischerweise in Wandlitz befindliches) Wochenendhäuschen samt Garten. Genuss ist schließlich Notwehr, auch und gerade im Kapitalismus. In diesem Sinne knacke ich heute, am 66. Gründungstag der DDR, ein halbes Dutzend Austern und trinke dazu einen fränkischen Weißburgunder (es muss nicht immer Elbling sein)