Der neue Jazzfest-Leiter Richard Williams hatte angekündigt, möglichst viele Facetten des Jazz zu präsentieren und außerdem einen besonderen Fokus auf das Musikschaffen in Berlin zu legen. So gesehen war das Eröffnungskonzert am Donnerstag schlüssig. Das 2010 in Berlin gegründete „Splitter Orchester“ versteht sich als Vertreter eines Stils, der sich „Echtzeitmuik“ nennt (was für ein bescheuerte Name!) Dieses Genre soll angeblich Mitte der 1990er Jahre im Bezirk Prenzlauer Berg entstanden sein.
Nun konnte ich Prenzlauer Berg noch nie sonderlich leiden, aber ich erinnere mich tatsächlich an einige Besuche in (längst verblichenen) Jazzclubs, wo eher verhärmt wirkende Musiker – oft aus dem Umfeld der Musikhochschule Hanns Eisler – merkwürdig verkopftes, ungenießbates Zeugs als Avantgarde zelebrierten.
Und nun also das Splitter Orchester: Zwei Dutzend Musiker als Staffage für einen Computer-Nerd, der keine Hacker-Programme schreibt und auch nicht mit einem Start Up an die Börde will, sondern an Soundkollagen friemelt. Da furzt dann auch mal eine Posaune, ein einsamer Streicherstrich ist zu vernehmen, eine Trommel schabt und scheppert, jedes Orchestermitglied hat ab und an seine Eingebung. Spontanität wird demonstriert, es gibt keinen Dirigenten, stattdessen reicht man sich Zettel. Der Rest ist Fiep, waber, zirp, zischel. Musik für Menschen, die zum Lachen in den Keller gehen, und zum Weinen auch.
Es folgte ein eher der Old school zuzuordnender Gig: Ein klassischen Trio (Klavier, Kontrabass Schlagzeug) mit Sängerin. Sowas ist manchmal langweilig, manchmal ganz nett – aber diesmal war es ziemlich gut. Cécile McLorin Salvant kann mit ihrer exzellent ausgebildeten Stimme anscheinend alles machen, was sie will – aber widersteht – wenigstens meistens – der Versuchung, technische Kabinettstückchen aneinanderzureihen. Dazu ein Begleittrio, dass nicht nur routiniert seine Rhythm Changes aneinanderreiht, sondern mit Liebe zum Detail agiert.
Und dann kam ER. Der Franzose Vincent Peirani gehört seit Jahren zur Elite der schmalen Zunft der Jazzakkordeonisten und sorgt mit seinem kongenialen Sopransaxophon Partner Emile Parisien international für Furore. Zum Jazzfest haben die beiden eine hochenergetische Rhytmussektion mitgebracht, zusammen brennen die fünf Musiker ein Feuerwerk nach dem anderen ab, mit fast schon beängstigender rhythmischer Präzision. Und endlich erlebt man mit Yoann Serra wieder mal einen Ausnahmedrummer, dem sie in der Kindheit offenbar kein Ritalin verabreicht haben. Jetzt wird der hyperaktive junge Mann vermutlich in Ketten gehalten, die nur zu Auftritten abgelegt werden. Dann entschwindet er in ein Paralleluniversum, hält telepathischen Kontakt mit Ginger Baker, Stewart Copeland, Dave Weckl und Dennis Chambers und trommelt alles in Grund und Boden. Doch die anderen sind stark genug um das aufzufangen und es grooved mörderisch. Dazu spielt Bassist Julien Herné immer die richtigen „falschen“ Töne, und so landet manche harmonische Wendung genau da, wo sie angenehm wehtut. Das ist Jazzrock reloaded, aber mit Zukunftsoption. Hoffentlich sind die, die beim Splitter Orchester zum Lachen in den Keller gegangen sind, wieder rechtzeitig nach oben gekommen. Das Versprechen einer breiten Palette hat Festivalleiter Williams am Eröffnungstag jedenfalls eingelöst. Das macht Appetit auf mehr.
CD-Tipp: Vincent Peirani : Living Being
Jazzfest Berlin noch bis zum 8.November