Gestern war für die evangelischen Christen in Deutschland der Toten- oder auch Ewigkeitssonntag, an dem der Verstorbenen gedacht werden soll. Ich bin nicht gläubig. Dennoch habe ich einen Gottesdienst besucht, in der Kaiser-Wuilhelm-Gedächtniskirche im Zentrum des alten Westberlin. Ein ziemlich normaler Gottesdienst, mit der festgelegten Liturgie und einer leider stinklangweiligen Predigt. Auch wollte ich endlich mal die wunderbare Orgel von Karl Schuke hören, die vor einigen Wochen beim Jazzfest so grausam missbraucht wurde. Irgendwie hat es mich ergriffen, vor allem „Wachet auf ruft uns die Stimme“, ein Choralsatz für Orgel von J.S Bach.
Auch für Agnostiker kann eine Kirche ein geeigneter Ort der Einkehr und des Innehaltens sein. Das würde ich vor allem all jenen Dampfplauderern empfehlen, die nach dem Massaker von Paris gleich paketweise Verschwörungstheorien und Schlussfolgerungen im Angebot haben.
Es ist teilweise unfassbar. Da wird nahe gelegt, der Anschlag sei in Wirklichkeit von westlichen Geheimdiensten inszeniert worden, um weitere Kriege vorzubereiten. In einem „linken“ Forum war dann wiederum die Rede davon, dass das Massaker „berechtigte Gegenwehr“ gegen die Luftschläge Frankreichs gegen den IS gewesen seien. Aber auch die „Guten“ sind voll neben der Spur, wenn sie gebetsmühlenartig betonen, mit dem Islam habe das alles rein gar nichts zu tun.
Es gibt noch etliche Fragen und Aspekte, aber ich habe derzeit einfach wenig Lust, mich dazu detaillierter zu äußern und habe zu vielem auch noch keine eindeutige Position, weder zu Militärschlägen gegen den IS, noch zu intensivierter Überwachung des öffentlichen Raums. Aber damit macht man sich als Linker in der Regel ja schon verdächtig.
Dass die Anschläge auch den Diskurs über die „Flüchtlingsflut“ beeinflussen, liegt auf der Hand. Die AfD gewinnt beträchtlich an Zustimmung. Das alleine finde ich nicht sonderlich beunruhigend, denn der ohnehin vorhandene dumpfbackige, fremdenfeindliche Bodensatz der Gesellschaft hat jetzt mal wieder ein medienwirksames Sprachrohr gefunden. Perfide ist allerdings, wie die herrschenden Parteien mit dem Blick auf Umfragen diesem Gedankengut hinterherhecheln und sich in der Strategie (EU-Grenzen militärisch sichern, nur noch Kontingentflüchtlinge aufnehmen) weitgehend einig sind – und weiterhin fröhlich Waffen z.B. an Saudi-Arabien liefern und den engen Schulterschluss mit der Türkei suchen, die ja bekanntlich eher die Kurden als den IS bekämpft. Weniger perfide, dafür aber strunzdumm ist die weit verbreitete Arroganz der „Guten“, die jeden Dialog mit Menschen, die der Zuwanderung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, für sinnlos und überflüssig erachten.
Für mich war es sowieso eine durchwachsene Woche, und das nicht nur, weil es relativ plötzlich kalt wurde. Ein vereinbartes Essay über die Genussunfähigkeit vieler deutscher Linker und die protestantischen Wurzeln dieses Kulturphänomens wurde vom „linken“ Auftraggeber abgelehnt – was in sich gesehen einigermaßen logisch ist. Aber einen Versuch war es wert. Jetzt suche ich halt einen „bürgerlichen“ Abnehmer, obwohl der Text in diesem Umfeld fast denunziatorisch klingen könnte.
Dann hatten wir da noch diese schmierige Posse um einen vielleicht nicht wirklich “rechten” aber zumindest ziemlich eklig durchgeknallten Schlagerheini bzw dessen Nominierung für eine Bekloppten-Show namens ESC. Der darf jetzt doch nicht “für Deutschland” singen, was das ganze Querfront-Gesockse zu wütenden Attacken gegen die obigatorische “Lügenpresse” und das Beschwören einer Meinungsdiktatur veranlasst. Bäääh!
Genusstechnisch ist auch nicht viel passiert. Wird höchste Zeit, dass ich wieder was Ordentliches koche und einen richtig guten Wein dazu trinke. Und natürlich Bach höre.