Der 7.November war mal wieder so ein Tag , den kein Menschen braucht. 5000 hauptsächlich aus Ostdeutschland herangekarrte PEGIDA- und AfD-Vollpfosten, die sich größenwahnsinnig als „das Volk“ bezeichneten, mäanderten durch Berlins Innenstadt. Die Polizei sorgte mit Schlagstöcken und Pfefferspray dafür, dass sie auf dem Weg zur Abschlusskundgebung vor dem Roten Rathaus ungestört von Gegendemonstranten ihre Hassparolen gegen „Volksverräter“, „Asylschmarotzer“ und natürlich die „Lügenpresse“ skandieren konnten.
Doch richtig weh tat es dann vor dem Beginn der Kundgebung. Denn die Veranstalter empfingen die Demonstranten nicht wie zu erwarten mit patriotischem Liedgut oder volkstümlichem Schlagergedudel, sondern mit einem der schönsten und strahlendsten Werke der europäischen Musikgeschichte: Den „Brandenburgischen Konzerten“ von Johann Sebastian Bach. Es war mit ziemlicher Sicherheit die schönste musikalische Umrahmung einer politischen Kundgebung, die in diesem Jahr in Berlin zu hören war. Und das ausgerechnet bei einer Versammlung von ausgewiesenen Rassisten und militanten Gegnern einer weltoffenen Kultur.
Leider kann man den Rechten nicht verbieten, Bach als Kronzeugen für ihre „deutsche Leitkultur“ zu missbrauchen. Aber warum wird man die „Brandenburgischen Konzerte“ wohl nie auf einer linken, antifaschistischen Kundgebung hören? Warum lassen wir uns die kraftvollen, inspirierenden und visionären Werke des wohl wichtigsten deutschen Komponisten nicht nur vom elitären Bildungsbürgertum, sondern jetzt auch noch von der AfD wegnehmen?
Aber warum könnte Bach der Soundtrack der Aufklärung und der Revolte sein? Seine Musik gehört schließlich zum Kanon der bürgerlichen Hochkultur und ist Dreh- und Angelpunkt der (evangelischen) Kirchenmusik, bewegt sich also in einem geistig-kulturellen Umfeld, zu dem man als gestandener Linker einen gewissen Abstand hält. Dazu kommen Schmierengeiger und -geigerinnen (Nein, ich nenne jetzt keine Namen) die sich auf unerträgliche Weise an zarten, fast introvertierten Meisterwerken wie der berühmten „Aria“ aus der 3. Orchestersuite vergehen und diese für Werbezwecke missbrauchen. Besonders schlimm wird es in der Adventszeit, wenn filigrane Choräle und Chorsätze in unsäglich verschleimten und verpopten Versionen als verkaufsförndernde Beschallung in Konsumtempeln und auf Weihnachtmärkten fungieren.
Ja, man hat uns Bach entfremdet, hat ihn uns weggenommen. Daher wird es höchste Zeit, dass wir ihn uns wieder aneignen. Gerade jetzt, wo die Welt anscheinend vollkommen aus den Fügen gerät, Deutschland wieder mal Krieg führt und Fluchtbewegungen für ein kaum für möglich gehaltenes Erstarken empathiefreier, rassistischer Strömungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft gesorgt haben. Gerade die Musik von Johann Sebastian Bach kann da zur Kraftquelle, zum Reinigungsbad für die Seele werden.
Dennoch sind die kulturellen Gräben tief, und die Distanz großer Teile der deutschen Linken gegenüber der„etablierten“ Kultur im Allgemeinen und der „klassischen“ Musik (zu de Bachs Werke gar nicht gehören, denn bei Barock spricht man von „Alter Musik“) im Besonderen geht weit über die berechtigte Kritik an der sozialen Ausgrenzung ärmerer Menschen von entsprechenden Veranstaltungen hinaus. Hinzu kommt die verbreitete Ablehnung der Kirchenmusik als Ausdruck klerikaler Denkmuster und auch die Einschätzung, Komponisten wieJ.S.Bach seien stets fern des Volkes im Sold weltlicher und kirchlicher Potentaten tätig gewesen. Schließlich lauert der Klassenkampf auch historisch an jeder Ecke: Volkskultur gegen die Kultur der Herrschenden.
Aber mit dieser vulgär-kulturkritischen Sichtweise kann man die Bedeutung von Bach als Dreh- und Angelpunkt der europäischen Musikgeschichte, als visionärem Tonsetzer und Inspirator der folgenden Epochen bis hin zur Zwölftonmusik und zu Strömungen im modernen Jazz kaum erfassen. Bach hat die Musik umfassend revolutioniert. Er etablierte die wohltemperierte Stimmung als Meilenstein zur Gleichberechtigung aller Tonarten durch Angleichung der Abstände zwischen den zwölf Halbtönen unseres Tonsystems. Bach entwickelte die archaischen Formen der Mehrstimmigkeit (Polyphonie) in einem wahren Quantensprung weiter und sprengte das Korsett „erlaubter“ harmonischer Fortschreibungen und Auflösungen (zum Beispiel „Die Kunst der Fuge“ oder „Das musikalische Opfer“). Bach beherrschte wie kein Komponist vor ihm(und wie die wenigsten nach ihm) die Kunst der Improvisation über einfache Basslinien oder auch komplexe Themen (zum Beispiel beiden „Goldberg-Variationen“). Er führte in seinen Solopartiten und-suiten für Violine und Cello das akkordische Spiel für diese Instrumente ein. Nach seinem Tod im Jahr 1750 sollte es mehrere Jahrzehnte – bei einigen Aspekten gar Jahrhunderte – dauern, bis die Tragweite seiner kompositorischen Innovationen erkannt wurde.
Wer sich auf Bach wirklich einlässt, spürt aber vor allem auch jenseits vertiefter musikalischer Kenntnisse die emotionale und spirituelle Kraft, die von seiner Musik ausgeht. Und das eben nicht wegen der Verzahnung vieler Orgelwerke, Kantaten, Messen, Magnificate und Choräle mit liturgischen Ritualen, sondern wegen der universellen, zeitlosen Schönheit und unergründlichen Tiefe dieser Tonschöpfungen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde und es gibt vor allem Empfindungen, die sich weder auf Basis der marxistischen Erkenntnistheorie noch der modernen Psychologie erklären lassen. Es gibt aber leider auch sich als fortschrittlich begreifende Menschen, die derartige Gedankengänge resolut in die Esoterik-Ecke verbannen wollen. Aber wahrscheinlich haben die noch nie die Messe h-Moll, die Johannes-Passion oder die Italienischen Suiten von Bach gehört.
„Aber wir haben doch unsere eigene linke Kultur“, kann es einem da entgegenschallen. Gewiss, die älteren Semester der Traditionslinken haben noch einen Bezug zu den großen Arbeiterliedern aus der Zeit der Weimarer Republik, andere sind mit „Ton Steine Scherben“ und „Fehlfarben“ aufgewachsen, oder auch mit dem „Oktoberklub“. Besonders in linksradikalen Kreisen erfreute sich „Slime“ großer Beliebtheit, und heute sind Bands wie K.I.Z. unverzichtbarer Bestandteil der Protestkultur. Dazu kommen die unverwüstlichen, generationsübergreifenden Hymnen der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Kampfes wie „Die Internationale“ und „Bandiera rossa“. Alles sozusagen textzentierte revolutionäre Gebrauchsmusik, unverzichtbar im jeweiligen Kontext und durchaus identitätsstiftend und geeignet, auch emotionale Gemeinsamkeit zu vermitteln. Doch es fehlt dieser Musik an universeller Kraft und Tiefe, sie bleibt an der Oberfläche, ihre Schwingungen sind mitunter kräftig, aber kurzwellig.
Zweifellos kann es ein wenig Überwindung kosten, sich als Rock-/Pop-/Tekkno-/Punk-/House-/Rap-/Hiphop- oder ähnlich musiksozialisierter Mensch auf den Zauber spätbarocker Meisterwerke einzulassen. Auch Anhänger der gängigen Protestliedkultur müssten wohl über ihren kulturellen Schatten springen. Doch es würde sich lohnen, denn Bach ist Seelenmassage und Kraftquell, und beides können Linke in ihrem Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse sehr gut gebrauchen. Die„Brandenburgischen Konzerte“auf einem Soli-Festfür was auch immer wäre jedenfalls ein großer kultureller Fortschritt.
Als Zugang zu dieser Musik steht ein sensationelles „Bach-Einsteiger-Projekt“ zur Verfügung. Dieses wurde in den Niederlanden entwickelt, was sicherlich kein Zufall ist, denn dort hat Alte Musik seit jeher einen wesentlich höheren Stellenwert als in Deutschland. Jedenfalls stellt die Niederländische Bach-Gesellschaft seit gut einem Jahr an jedem Freitag ein Video mit einer exzellenten Aufführung eines Bach-Werkes ins Netz. Erstklassige Interpreten, sehr gute Tonqualität und umfangreiche Informationen zu dem jeweiligen Werk machen dieses kostenlose Angebot zu einem „must look“ für jeden kulturinteressierten Menschen. Bachs Werkverzeichnis umfasst 1080 Kompositionen, in rund zwanzig Jahren wird also alles online sein. In diesen zwanzig Jahren wird viel passieren. Es wird ungeheure ökonomische, ökologische und soziale Verwerfungen geben, weitere Kriege und letztendlich um die Alternative Sozialismus oder Barbarei gehen. Es wird Widerstand geben, Erfolge und Niederlagen, Euphorie und Resignation. Die Kraft weiter zu machen muss immer wieder neu geschöpft werden, auch individuell. Bei diesem Prozess kann die Musik von Johann Sebastian Bach eine große Stütze sein. Wir müssen sie uns nur aneignen und nutzen.
P.S. Der Artikel erschien heute in der Wochenendausgabe von “Neues Deutschland”, ist im Internet aber nur für Abonnenten abrufbar.