Das Boot ist voll

Der folgende Text von mir erschien am 20. Februar in der Wochenendbeilage des “Neuen Deutschland”

Es ist die reinste Idylle. Trendig gewandete Kite-Surfer segeln über grillende türkische Großfamilien hinweg. Nur selten erschlagen sie beim Landeanflug einen Radfahrer, was wohl als Reminiszenz an die Geschichte des Areals als Flughafen verstanden werden kann. Eine Yoga-Lehrerin und ihre Jünger brabbeln Mantras, während versonnene urbane Citoyens an ihren Salatsetzlingen werkeln. Schnaufende Jogger und Pedalistas kontrollieren mit ihren High-Tech-Messgeräten am Handgelenk Kilometerleistung und Kalorienverbrauch, amüsiert betrachtet von trommelnden Kiffern, Kaffee trinkenden Pärchen und entschleunigten Flaneuren. Es ist Platz genug für alle, denn das Areal in Berlin umfasst immerhin 280 Hektar, ist also größer als der große Tiergarten.

Das ist die »Tempelhofer Freiheit«, von der alle träumten, als der Flughafen Berlin-Tempelhof im Oktober 2008 seinen Betrieb einstellen musste. Eine letzte Aufwallung der Westberliner Kalte-Kriegs-Generation, die das »Tor zur freien Welt« unter Beschwörung der Luftbrücke zur Versorgung der Stadt in den Jahren 1948/49 offenhalten wollte, war zuvor gescheitert. Der diesbezügliche Volksentscheid erreichte nicht das notwendige Quorum.

Die Öffnung des Feldes sollte eine Art Ende der Geschichte dieses Areals sein, doch diese Vorstellung erweist sich stets als Trugschluss. Seit seiner Erschließung im 18. Jahrhundert diente dieser märkische Sandacker als Projektionsfläche für epochale Entwicklungen bis hin zu Größenwahn und Allmachtsfantasien. Preußens Könige zelebrierten hier ihre Siegesfeiern, Luftfahrtpioniere ihren Traum vom Fliegen, für das Volk wurde der »Tivoli« gebaut, ein weiträumiger Freizeitpark mit Biergärten und Pferderennbahn. 1923 wurde schließlich der Flughafen Tempelhof eröffnet und in den folgenden beiden Jahrzehnten mit gigantischen Gebäudekomplexen eingerahmt. Das erwies sich als Steilvorlage für die NSDAP, die Tempelhof zum »Weltflughafen« machen wollte, zum globalen Verkehrsknotenpunkt der geplanten »Welthauptstadt Germania«. Doch letztendlich reichte es nur für ein kleines Konzentrationslager der SS und Produktionsanlagen für Sturzkampfbomber der Reichsluftwaffe nebst Baracken für Zwangsarbeiter. Zumal Hitlers Baumeister Speer bereits Anfang der 40er Jahre schwante, dass die Ausbaumöglichkeiten des inmitten von dicht besiedelten Wohngebieten liegenden Flughafens begrenzt sind. Er begann dann mit Planungen für einen Freizeitpark.

Dieses Vermächtnis sollte nach 2008 also Realität werden. Doch 280 Hektar in bester Innenstadtlage wecken Begehrlichkeiten, zumal in einer Stadt mit stetigem Bevölkerungswachstum und drängendem Wohnungsmangel. Beim Senat reiften Pläne, die Ränder des Feldes, insgesamt 30 Hektar, mit 4700 Wohnungen und einigen Bürokomplexen zu bebauen. Offensichtlich hatte man den Furor unterschätzt, den das auslösen würde. Binnen Monaten formierte sich eine mächtige, äußerst heterogene Bürgerbewegung. Flughafennostalgiker, Umweltschützer, Kleingärtner, Kiez-Aktivisten, Sonnenanbeter und Menschen, die es »denen da oben mal zeigen« wollten, waren sich einig: Keine Veränderung, keine Bebauung. Und sie waren erfolgreich: Im Mai 2014 erhielt ein entsprechender Gesetzentwurf bei einem Volksentscheid die deutliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Natürlich wurde in der Kampagne auch gelogen, dass sich die Balken biegen, aber das gehört zum politischen Geschäft. Neben den obligatorischen Kaltluftschneisen, freien Sichtachsen und Gefahren für die Biodiversität sowie der Verteidigung von Freiräumen und dem Erhalt des historischen Ensembles wurden u.a. auch Wohnungsspekulation (obwohl städtische Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften dort bauen sollten) und Verdrängung in den angrenzenden Kiezen durch »Aufwertung« und stark steigende Mietspiegelwerte ins Feld geführt (obwohl der Neubaumietspiegel nichts mit dem für Bestandswohnungen zu tun hat).

Was für die einen ein historischer Sieg für die direkte Demokratie war, stellte sich für andere als schwarzer Tag für die Stadtentwicklung dar. Denn in der Folge sprossen in allen erdenklichen Ecken Berlins Initiativen gegen Wohnungsbau wie Pilze aus dem Boden. Nein, nicht generell gegen Wohnungsbau, aber keinesfalls wollte man Wohnungsbau dort, wo man selber wohnt. Was in der Summe allerdings darauf hinauslaufen würde, dass nirgends gebaut werden kann. Im Kern ist es ein selbstbewusstes »alternatives« Bürgertum, welches sein »Recht auf Stadt« durchsetzen und die »gewachsene Struktur« seiner Kieze verteidigen will. So heißt es in den Satzbausteinen der »Mauerpark-Allianz« für Einwendungen gegen die dortige Baupläne u.a.: »Ich lehne den Bebauungsplan ab, weil zwischen alten und neuen Bewohnern zwei Welten aufeinander prasseln.« Der Senat schlug allerdings zurück und entzog den Bezirken in vielen Fällen die Planungshoheit, bereits eingeleitete Bürgerbegehren liefen ins Leere.

Das Feld selbst schien zunächst aus der Schusslinie zu sein, der Traum von der »Tempelhofer Freiheit« ging weiter. Doch dann kamen sie: Erst 10 000, dann 30 000, und bis Ende 2015 waren es sogar 80 000 Flüchtlinge, die in Berlin Schutz vor Krieg und Verfolgung oder Chancen für ein besseres Leben suchen. Keine Stadt der Welt dürfte auf Derartiges ausreichend vorbereitet sein, entsprechend schnell wurden die Unterkünfte knapp. Sicherlich kann man dem Senat einige Versäumnisse vorwerfen. Jahrelang wurde der Wohnungsbau vernachlässigt, viel zu spät und auch jetzt noch halbherzig gegen Leerstand und illegale Ferienwohnungen vorgegangen. Doch die 80 000 sind jetzt da und müssen vor der Obdachlosigkeit bewahrt werden. Unter anderem wurden bereits 60 Schulturnhallen belegt, was ebenfalls zu Protesten führte.

Nun also wieder Tempelhof. In den Hangars und in temporären Bauten auf dem betonierten Vorfeld sollen insgesamt 7000 Flüchtlinge untergebracht werden, geplant sind auch Infrastruktureinrichtungen wie ein medizinischer Stützpunkt, eine Großküche, eine Turnhalle, ein Sportplatz und ein Jugendklub. Um die temporäre Bebauung zu ermöglichen, wurde das Tempelhof-Gesetz vor einigen Wochen geändert. Jetzt stehen sie wieder alle auf der Matte. Zwar haben sich auch ein paar »besorgte Bürger« eingeschlichen, die sich in den einschlägigen Foren um die »Atmosphäre« und den »Erholungswert« des Feldes Gedanken machen, doch der Tenor des Protestes ist eindeutig: Man hat nichts gegen Flüchtlinge. Ganz im Gegenteil: Man sorgt sich um sie, weil derartige Massenlager menschenunwürdig seien und die Integration erschweren (was nicht von der Hand zu weisen ist). »Refugees welcome« und »Offene Grenzen und Bleiberecht für alle« gehört zum Standardrepertoire bei der Neuauflage des Tempelhofer Kulturkampfes. Als Alternative werden dezentrale Unterkünfte vorgeschlagen, wofür jeder Aktivist gleich ein paar Standorte im Ärmel hat – die sich allerdings bei näherer Betrachtung meistens als wenig realitätstauglich erweisen, vor allem in Bezug auf kurzfristige Nutzung. Antworten auf drohende Obdachlosigkeit und die Zahl 80 000 (und täglich werden es mehr) sind das jedenfalls nicht. Das gilt auch für den im linksradikalen Spektrum beliebten Lösungsvorschlag: Revolution machen und Immobilienbesitzer enteignen. Doch auch das könnte vielleicht noch eine gewisse Zeit dauern.

Aber eigentlich geht es ja – Flüchtlinge hin oder her – um das Feld an sich. Die mittlerweile ziemlich zerstrittene Initiative »100 Prozent Tempelhof« pflegt eine Art Verschwörungstheorie. Der Senat wolle mit Hilfe der Flüchtlinge jetzt »Rache« für den verlorenen Volksentscheid nehmen und die temporären Bauten als Einfallstor für eine spätere Komplettbebauung benutzen. Dazu ein User im Forum : »Plötzlich kommt mir der Verdacht, die Absicht des Senats ist es, das Feld mit Flüchtlingen zu versehen, damit es da stressig wird und sich später keiner mehr richtig für das Freibleiben des Feldes einsetzen will«.

Ja, es wird »stressig« werden, nicht nur auf dem Tempelhofer Feld. Schon jetzt verzeichnet die Stadt überdurchschnittlich viele Arme, Jugendliche ohne Schulabschluss und einen dramatischen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Durch diejenigen Flüchtlinge, die hier bleiben dürfen und wollen, wird sich die Situation verschärfen, unabhängig von Notunterbringungen wie jetzt in Tempelhof. Teile des aufgeklärten Bürgertums – also jenseits der AfD und sonstigen Dumpfbacken – haben längst eigene Strategien für die Situation entwickelt. Auf der einen Seite spenden sie Kleidung und Spielzeug für Flüchtlinge oder engagieren sich in Helfergruppen. Auf der anderen Seite verteidigen sie »ihre« Refugien und soziokulturellen Besitzstände und suchen nach Möglichkeiten, ihre Kinder in möglichst ausländerfreie Schulen zu schicken. Sie würden niemals laut sagen: »Das Boot ist voll«. Aber sie meinen es im Kern, wenn sie auf ihre »Freiräume« und »Kiezstrukturen« pochen. Tempelhof ist zur Projektionsfläche geworden.

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