Lieber Silvaner als “Karneval der Kulturen”

Mach doch mal hinne, ick hab meene Zeit nich jestohlen“. Das waren die ersten Worte, die ich nach meiner Rückkehr aus Franken am Hauptbahnhof in Berlin hörte. Drei Tage unter freundlichen, lebenslustigen und oftmals auch fröhlichen Menschen sind vorbei; ich bin wieder in der Hauptstadt der Muffelnden und Verkniffenen. Hier würde mir wohl kein Kellner eines Bahnhofscafés im Laufschritt zum Bahnsteig hinterher rennen, um mir vor Abfahrt des Zuges noch meine Sonnenbrille zu überreichen, die ich liegen gelassen hatte (So geschehen in Kitzingen).

Natürlich sieht sich Berlin offiziell ganz anders, nämlich als „weltoffene, multikulturelle Metropole“. Besonders zu Pfingsten, denn dann wird hier der „Karneval der Kulturen“ gefeiert. Beim großen Umzug mit über 70 Festwagen und den dazugehörenden Gruppen durch Kreuzberg und Neukölln kommen bei gutem Wetter manchmal über eine Million Besucher. In einigen Gruppen dürfen diesmal sogar ein paar echte Flüchtlinge mitmachen. Nichts für mich, nichts wie weg hier. Das gilt auch für das nächste Wochenende, denn dann gibt es – kein Scherz – mitten in Berlin ein Autorennen!

Wenn der Lärm verebbt, die Betrunkenen und Bekifften wieder nüchtern, der Müll beseitigt und die Partytouristen wieder verschwunden sind, kehrt der Alltag ein. Und der ist teilweise ausgesprochen bitter. Die Zahl der Wohnungslosen ist im vergangenen Jahr drastisch gestiegen. Vor allem, weil es für viele Flüchtlinge, die nach Anerkennung ihres Asylantrags die Gemeinschaftsunterkünfte verlassen wollen und sollen, schlicht keine Wohnungen gibt. Sie konkurrieren mit den „autochthonen“ Armen um eine bezahlbare Bleibe, denn die Stadt hat die Förderung des Wohnungsbau über ein Jahrzehnt faktisch eingestellt und kommt auch jetzt nur mühsam in die Gänge. Und eben jene „alternative“ Szene, die sich für besonders multikulturell und weltoffen hält, wehrt sich in ihren Altstadtkiezen mit Händen und Füßen gegen den Neubau von Wohnungen.

Die AfD freut das. Sie steht in den aktuellen Wahlprognosen für die Abgeordnetenhauswahl im September bei 15 Prozent, Tendenz steigend. Dass es im Ostteil der Stadt sogar 18 Prozent sind, fällt da kaum sonderlich ins Gewicht. Dabei geht es schon längst nicht mehr nur um Fremdenhass, sondern um die Abkoppelung von einem politischen und gesellschaftlichen System, in dem man sich nicht mehr vertreten fühlt.

Eigentlich wäre es die vornehmste Aufgabe der Linken und vielleicht sogar der SPD diesen Menschen ein Angebot zu machen, ohne dem rassistischen und antimodernen Gedöns nachzugeben. Doch sie tun es nicht. Sie haben keinen überzeugenden Plan gegen Altersarmut, Familienarmut, Bildungsarmut oder Wohnungsnot. Und vor allem: Man glaubt Ihnen einfach nicht mehr. Schließlich war Berlin zwischen 2002 und 2011 „rot-rot“ regiert. Mit dem Ergebnis, dass über 100.000 in Kommunalbesitz befindliche Wohnungen an private Finanzinvestoren verscherbelt, die Löhne im öffentlichen Dienst und bei städtischen Betrieben teilweise gesenkt und die soziale Infrastruktur der Bezirke reichlich zerschreddert wurde.

Ich glaube schon lange nicht mehr, dass ich an großen Rädern drehen kann. Ich mische ein klein bisschen mit, schreibe Artikel und Bücher, führe viele Diskussionen, engagiere mich in meinem Stadtteil. Und pflege ansonsten meine kleine Nischen: Den Landsitz in Wandlitz, gute Musik, gutes Essen, guten Wein. Genuss ist schließlich Notwehr.

Das ist die Alternative zum Karneval der Kulturen

 

Womit wir beim Thema wären: Fränkischen Silvaner kann man nicht nur zum Spargel trinken, sondern auch zur gegrillten Forelle. Aber eigentlich immer. In diesem Sinne…

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