Eigentlich wollte ich mich einigermaßen unbeschwert auf bevorstehende kulturelle Hochgenüsse einstimmen. Heute abend besuche ich ein Konzert mit den drei großartigen JazzpianistenLeszek Mozdzer, Iiro Rantala und Michael Wollny in der Berliner Philharmonie. Morgen gibt sich Altmeister Joachim Kühn im Kesselhaus die Ehre. Und Ende nächster Woche beginnt bereits das jährliche Bachfest in Leipzig, für mich stets eine ergiebige Quelle für Sammlung, Erbauung und das Schöpfen neuer Kraft.
Doch die Scheiß-Realität in diesem Land lässt einen – sofern man sozial nicht komplett abgestumpft ist – einfach nicht los. Eine simple statistische Auswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit hat ergeben, dass mittlerweile jedes siebente Kind unter 15 Jahren in Hartz-IV-Armut lebt, Tendenz steigend. In Berlin ist es sogar fast jedes dritte Kind, ebenfalls ein deutliches Plus gegenüber dem Vorjahr. Und das in einer Stadt, deren Repräsentanten nicht müde werden, die großartige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Metropole zu bejubeln.
Nein, diese Kinder (und ihre Eltern) müssen in der Regel nicht hungern und frieren, und sie haben auch ein Dach über dem Kopf. Aber sie sind sozial und kulturell weitgehend ausgegrenzt und haben entsprechend schlechte Chancen, dem materiellen und soziokulturellen Elend nachhaltig entwachsen zu können.
Für ein bis zwei Tage wird diese Meldung für einiges Medien-Bohei sorgen. Wir werden mahnende Worte hören, auch von „Erschütterung“ und „unhaltbaren Zuständen“ wird sie Rede sein. Politiker werden ihre – offensichtlich vollkommen verfehlten – Konzepte zur Überwindung massenhafter Kinderarmut präsentieren, Sozialverbände auf spürbare materielle Verbesserungen für arme Familien pochen. Nach ein paar Tagen ist wieder alles vorbei und passieren wird – NICHTS.
Selbst die L:INKE diskutiert derzeit mehr über Tortenwürfe und Regierungsbeteiligungen, einflussreiche GRÜNE warnen derweil vor Forderungen nach einer Vermögenssteuer, da dies „Wähler der Mitte“ abschrecken könnte. Und über die sozialpolitische Bankrottkoalition aus CDU/CSU und SPD braucht man wohl eh kein Wort mehr verlieren. Profitieren von Horrormeldungen zur Kinderarmut wird in erster Linie die AfD, denn die hat mit Flüchtlingen und „integrationsunfähigen Muslimen“ längst griffige Sündenböcke für alle sozialen Probleme dieses Landes zu bieten.
Dass Rechtspopulisten gewisse Erfolge erzielen, ist dabei nicht das eigentliche Problem. Vielmehr fehlt es in diesem von Abstiegsängsten bis weit in die Mittelschichten geprägtem Land an einer starken sozialen Opposition, die eine umfassende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf die Tagesordnung setzt. Denn nur dies könnte eine wirklich nachhaltige Überwindung von Kinder-, Bildungs- und Altersarmut zumindestens möglich machen. Doch die deutsche Gesellschaft befindet sich – wiederum bis weit in die Mittelschichten hinein, aber diesmal von oben gesehen – in einem relativ radikalen Abschottungsmodus gegen „die da unten“. Die spielen auch in der soziokulturellen Lebenswelt der meisten links oder wenigstens sozialhumanistisch eingestellten Menschen kaum eine Rolle. Wenn man mal von den punktuellen Formen der ehrenamtlichen Hilfsbereitschaft absieht. Oder der gelegentlichen Spende für einen Obdachlosen in der U-Bahn oder ein Hilfsprojekt. „Wir“ haben schließlich genug mit unseren eigenen mehr oder weniger dramatischen Existenzängsten zu kämpfen. Ab einer gewissen Gehalts- oder Vermögensklasse ist das dann halt die Finanzierung der Eigentumsimmobilie, der nächsten großen Urlaubsreise, oder der physischen und psychischen Selbstoptimierung.
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Und verzeichnet gleichzeitig rasant wachsende Armut. Wir sind offenbar bereit, das in Kauf zu nehmen. Sonst würden wir handeln.