Abflug mit Joachim Kühn und Émile Parisien

Wirklich spannende Musik entsteht mitunter dann, wenn Verrückte da anfangen, wo normale Menschen aufhören. Der 72jährige Pianist Joachim Kühn hat genug gehört, erlebt und gemacht, um sich noch mit Petitessen wie „Stilistik“ oder „Genre“ abgeben zu müssen. Seine Auftritte sind expressive Momentaufnahmen eines beseelten Musikers, der sein Material nicht sucht, sondern findet, der seine mal brettharten, mal perlenden Harmonie- und Melodiekonvolute einfach fließen lässt. Mit dem Sopransaxophonisten Émile Parisien – der zwar sein Enkel sein könnte aber offensichtlich ähnlich tickt – brannte Kühn am Mittwoch im Kesselhaus in der Berliner Kulturbrauerei ein Feuerwerk ab, wie man es leider viel zu selten erlebt. Man startet bei den Stücken irgendwo, z.B. bei Ornette Coleman oder den Sounds der Musiker in der norsafrikanischen Wüste, und lässt es dann laufen. Diese Art von Duo ist Kommunikation und Intuition pur, rauschhaftes Spiel auf einer Wellenlänge bis zum präzisen Landeanflug. Derartige Auftritte sind immer Unikate, nur eingeschränkt reproduzierbar. Glücklicherweise hat Deutschlandradio Kultur das Event aufgezeichnet und wird es am Montag senden. Laut machen, Augen zu und mitfliegen.

Womit wir beim Hintergrund dieses Auftritts wären. Zum nunmehr 10. Mal fand in Berlin das Festival „Jazzdor Strasbourg-Berlin statt, das am heutigen Freitag nach vier Tagen die Pforten schließt. Der Name ist schnell erklärt. Es handelt sich um die Berliner Dependance eines Jazzfestivals in Strasbourg, bei dem hauptsächlich französische Musiker präsentiert werden, die teilweise erstmals in Deutschland auftreten. Mit dem Kesselhaus in der Kulturbrauerei hat man auch eine atmosphärisch geeignete Spielstätte gefunden. Es ist ein Festival für Entdecker, und in der französischen Jazzszene gibt es viel zu entdecken, wie z.B. das Quartett der aus Syrien stammenden Flötistin Naissam Jalal, dass sich bruchlos zwischen orientalischer Trance und urbanen Grooves bewegt. Und es gibt natürlich auch eher verkopftes, peudo-freies Zeugs, das besonders in Berlin eine stabile Fangemeinde hat. Aber ein Festival, das nur aus Highlights besteht bzw. nur den eigenen Geschmack bedient, wäre stinklangweilig.

Wie gesagt: Heute abend ist Schluss, und der Auftritt von „Le Bal des Faux Frères“ könnte für heftiges Ballroom-Feeling sorgen. Gerne erwähne ich noch eine Kleinigkeit. Das Weinangebot in Klubs wie dem „Kesselhaus“ bewegt sich in der Regel zwischen Beleidigung und Körperverletzung. Doch wenn ein französischer Veranstalter das Heft in der Hand hat, kann man aufatmen bzw. beruhigt trinken. Z.B. einen gradlinigen, frischen Picpoul de Penet mit feinem Säurekick. Vive la France! Und im nächsten Jahr werde ich mich bereits im Vorfeld diesen engagierten Festival widmen. Versprochen!

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