Es gibt halt Prioritäten. In den 60-Minuten-Schleifen der Nachrichtensender (Rundfunk) verkamen die Anschläge in Bangladesh und Bagdad am Wochenende angesichts epochaler Ereignisse bei der Fußball -EM zu Randnotizen. Was sind schon 150 Tote gegen einen gehaltenen Elfmeter.
Auch andere Ungeheuerlichkeiten werden kaum noch wahrgenommen. 400.000 Griechen – zumeist jung und gut ausgebildet – haben das von der Troika ausgepresste Land aufgrund der Wirtschaftslage in den vergangenen Jahren verlassen. Derweil fordert der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger Strafmaßnahmen gegen Spanien und Portugal wegen mangelnder „Sparanstrengungen“. Selbst der „Brexit“ und seine schwer kalkulierbaren Folgen für Europa sind im Vergleich zu den maladen Muskelfasern von Gomez und Khedira nur Petitessen. Und von der AfD, die jetzt die Abschaffung der Inklusion von behinderten Kindern zu einer der zentralen Wahlkampfforderungen in Nordrhein-Westfalen gemacht hat, spricht angesichts der Probleme des offensiven deutschen Mittelfeldes bei der „Eroberung und Besetzung von Räumen“ (O-Ton Steffen Simon am Sonnabend in der ARD ) ohnehin niemand.
Ich habe mich angesichts gewisser bedrohlicher Zuspitzungen in der jüngeren Vergangenheit manchmal gefragt, ob mein Eintreten für die PARTEI, z.B. bei den bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, im Moment richtig ist. Zumal mit einige dort zur Schau gestellte Formen von Narzissmus derzeit ein wenig auf den Wecker gehen. Doch wenn man diese albernen, auf Postensicherung bedachten Polithanseln von SPDCDUGRÜNELINKE dann wieder in ihrer vollen Pracht erlebt, sind derartige Zweifel schnell verflogen. So wäre ich fast versucht gewesen. meine Erststimme in meinem Moabiter Wahlkreis Steve Rauhut zu geben, einer zweifellos sozial engagierten, ehrlichen Haut, der als Parteiloser für die LINKE kandidiert. Doch dann ließ sich Rauhut Mitte Juni – offensichtlich stolz wie Bolle – von „unserem“ neoliberalen Kriegspräsidenten Gauck bauchpinseln, als dieser eine Veranstaltung in Moabit besuchte.
Sorry, aber da kann ich mein Kreuz nicht machen. Also doch: Es lebe die PARTEI, hurra! Denn sie hat in der aktuellen Situation das einzig realistische Politikverständnis und -konzept.
Dennoch drückt die Verfassung unserer Gesellschaft gelegentlich auf’s Gemüt. Zumal ich mir meiner Hilf- und Einflusslosigkeit vollkommen bewusst bin. Deutschland erscheint mir von einer dringend notwendigen sozialen Umwälzung Lichtjahre entfernt zu sein. Derweil entblöden sich diverse Linke nicht, den „Brexit“ als eine Art emanzipatorischen Akt der englischen Arbeiterklasse zu bewerten, obwohl er offenmsichtlich eine Art Dammbruch für den weiteren Vormarsch von Rassismus und antimoderner Dumpfheit in ganz Europa ist. Aber ein einigermaßen griffiges Angebot für die Abgehängten und Prekarisierten haben sie auch nicht, außer der Revolution natürlich.
Und was mache ich? Ein paar Artikel für Zeitungen, Zeitschriften und Magazine schreiben, ein neues Buch in Angriff nehmen. Was soll ich auch sonst machen, ich muss ja schließlich meine Miete bezahlen. Und so ganz will ich mir meine Lebensfreude auch nicht verderben lassen. Die Etüden und Preludien auf dem Klavier werden allmählich wieder etwas flüssiger, auf dem Landsitz wurde mit energischem Einsatz von Heckenschere und Fuchsschwanz freie Sicht auf das Feld geschaffen. Im Kampf gegen Maulwurfshügel und „märkische Sandbüchse“ wurde ein bedeutender Etappensieg erzielt, Salate, Spitzkohl und Kohlrabi sind verzehrreif und ich freue mich schon auf die Tomaten. Und als Krönung gab’s am Sonnabend ein paar Scheiben undglaublich guten gegrillten Lammrücken sowie den besten Rhabarberkuchen, den ich je gegessen habe. Auch mal wieder einen „Schwäppchenwein“, da Lidl derzeit eigentlich höherpreisige, ziemlich gute Bordeaux-Weine für fünf Euro verramscht. Und auf meinem Balkon in Moabit sprießen die Blüten vom violetten Strauchbasilikum, einem der spannendsten Gewürze überhaupt
Natürlich werde ich mir auch die beiden Halbfinals und das Endspiel der EM angucken. Ich hoffe auf eine Finale Frankreich gegen Portugal, weil das ein guter Vorwand wäre, mir anlassgemäß ein paar Austern, ein wenig Gänsestopfleber, Sardinen und ein Stubenküken nebst passenden Weinen zu besorgen. Das klingt irgendwie komisch oder auch wirr, aber Genuss ist bekanntlich Notwehr.