Es ist vorbei. Die Fahnen und Fähnchen werden (hoffentlich) bald wieder eingerollt, beim Bäcker gibt es wieder Schrippen statt „Europameister-Brötchen“, weitere enthemmte Autokorsos bleiben uns ebenso erspart wie eine furchtbare Schland-Feier vor dem Brandenburger Tor, bei der womöglich sogar die grauenvolle Frau Fischer wieder in Erscheinung getreten wäre. Das noch ausstehende Finale zwischen Frankreich und Portugal kann zumindest aus deutscher Sicht unter rein sportlichen Aspekten angeschaut werden.
Natürlich haben diese beiden Mannschaften das Erreichen des Finales verdient, jedenfalls keinen Deut weniger, als es bei einigen ausgeschiedenen Mannschaften (vor allem Italien und Deutschland) der Fall gewesen wäre. Die beiden Finalteams haben sich nach schwachem Beginn während des Turniers gefunden und gesteigert, spielen auf hohem taktischen Niveau und haben einige überragende Einzelkönner in ihren Reihen (vor allem Griezmann und Ronaldo), die nicht zufällig auch die Scorerliste anführen). Und natürlich ist Deutschland nicht „trotz drückender Überlegenheit unverdient“ ausgeschieden, wie heute gelegentlich zu hören war. Wer sich in einem Halbfinalspiel gegen ein Spitzenteam zwei derart horrible Abwehrkorken leistet wie Schweinsteigers Handballeinlage und Kimmichs Gurkenpass hat schlechte Karten für einen Sieg. Zumal Deutschland in Ermangelung eines „echten“ zentralen Stürmers gegen gut organisierte Abwehrreihen viel zu selten wirklich gefährliche Aktionen vor dem Tor generieren kann. Deutschland hat in Bestbesetzung eine sehr gute Abwehr und das vielleicht beste defensive und offensive Mittelfeld der Welt, aber derzeit weder einen Griezmann, Giroud oder Payet, noch einen Ronaldo, Nani oder Quaresma. Auf das Finale bin ich jedenfalls gespannt, auch wenn zu befürchten ist, dass es nicht unbedingt eine Augenweide wird.
Ja, es gab auch Überraschungen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie bisweilen getrötet wurde. So richtig den Rahmen des Vorstellbaren gesprengt haben eigentlich nur die Siege von Wales gegen Belgien (im Viertelfinale) und von Island gegen England (im Achtelfinale). Absolut erwartbar dagegen das frühe Scheitern des selbsternannten „Geheimfavoriten“ Österreich, das sich – wie eigentlich immer – als inferiore Gurkentruppe präsentierte.
Politisch und soziokulturell ist die EM nicht so schlimm verlaufen, wie zu befürchten war. Natürlich haben sich auch einige deutsche Fans in Frankreich wieder artgerecht daneben benommen, und auch hier gab es nationalistische oder einfach nur debile Aufwallungen. Aber immerhin wurde nicht bekannt, dass es spezielle „Siegesfeiern“ in Form von Überfällen auf Flüchtlinge und andere Ausländer gab, wie bei der WM 2014 noch zu beobachten war. Das kann man im heutigen Deutschland bereits als positiv werten. Vielleicht liegt es ein bisschen daran, dass sich eine deutsche Nationalmannschaft, in der Mesut Özil. Sami Khedira und Jerome Boateng zu den tragenden Säulen gehören und Leroy Sané, Antonio Rüdiger, Emre Can und Jonathan Tah als große Zukunftshoffnungen gelten, wenig als Projektionsfläche für rassistischen Herrenmenschenwahn eignet. Aber ich gehöre auch nicht zu jenen Neurotikern, die hinter jeder zur EM gehissten Fahne und anderen schwarz-rot-goldenen Fan-Utensilien gleich eine rechte Gesinnung oder Schlimmeres wittern. Und zweifellos vorliegende ästhetische Zumutungen entziehen sich einer politischen Bewertung.
Sehr lustig dagegen der allgemeine Hype um Island – ein weit abgelegener, irgendwie sympathischer Zwergstaat und Hort der patronymischen Namensgebung . Das heißt, fast alle Männer heißen xxx-son und die Frauen xxx-dottir. In Verbindung mit einigen Äußerlichkeiten und dem Image der verschworenen Underdog-Gemeinde erinnerte das dann stark an das gallische Dorf von Asterix und Obelix. Da fällt kaum ins Gewicht, dass der inzwischen wohl in ganz Europa bekannte, von anschwellendem und schneller werdendem Klatschen begleitete „Wikinger-Schlachtruf“ (HUH, HUH, HUH usw.) ein Fake ist und ursprünglich in der Fanszene eines schottischen Klubs entwickelt wurde. Umso sympathischer, dass Frankreichs Fans dieses Spektakel jetzt adaptiert haben.
Für mich war die EM jedenfalls eine recht angenehme Abwechslung und ein willkommener Anlass mich ein wenig mit der Historie und derzeitigen Verfasstheit der teilnehmenden Länder zu beschäftigen. Da war wirklich fast alles dabei, was Europa so zu bieten hat: Autokratisch-reaktionär regierte Osteuropäer (Ungarn, Polen), korrupte Balkan-Staaten (Albanien, Rumänien), ein Land im Bürgerkrieg (Ukraine), die Länder der Brexit-Kicker, die von Terror und permanenter Unregierbarkeit gebeutelten Belgier, die durchgeknallten Neo-Osmanen aus der Türkei, wirtschaftlich kriselnde Süd- und Mitteleuropäer (Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Irland) und mehr oder weniger nationalistisch und wohlstandschauvinistisch agierenden Abschotter mit erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen (Frankreich, Deutschland, Schweden, Schweiz, Österreich) Auch die Hymnen habe ich mir -soweit noch nicht bekannt- angehört, und auch da war Island ganz weit vorne.
Es wird niemanden überraschen, dass meinerseits auch die Ess- und Trinkgewohnheiten einiger Länder zu den jeweiligen Spielen zelebriert wurden. Abgesehen von Wales war das ab dem Halbfinale ziemlich erbaulich. Auch in dieser Hinsicht ist das Finale zwischen Frankreich und Portugal über jeden Zweifel erhaben. Heute wird schon mal ein bisschen vorgefeiert. Eine französische „Délice d’escargots à la persillade“ wird sich mit einer portugiesischen „Paté de Sardinha Picante“ messen. Sozusagen neutraler Schiedsrichter wird – ein kleiner Tribut an die große, stilprägende Ära dieser Mannschaft – ein spanischer Rosé (sortenreiner Mencia aus Bierzo). Und damit mir keiner vorwirft, ein „Antideutscher“ zu sein: Das Dinkel-Weißbrot stammt aus der „Meisterbäckerei“ in Berlin-Moabit.