Der Pollenflugterror (vor allem Beifuß und Ambrosia) hat mir in dieser Woche auf dem Wandlitzer Landsitz gewaltig zugesetzt. Deshalb verbringe ich erstmals seit längerer Zeit ein Wochenende in der Moabiter Heimat. Eigentlich müsste hier ja der Wahlkampf toben, denn in zwei Wochen werden ein neues Landesparlament und die Bezirksvertretungen gewählt. Aber das scheint die Menschen nur wenig zu interessieren und auch die Parteien geben sich– zumindest hier in Moabit – erkennbar wenig Mühe, noch Stimmvieh einzufangen. Am „Moa-Bogen“, wo sich auch ein Mega-EDEKA befindet, verteilen ziemlich verpeilt wirkende FDP-Helfer ihre Zettelchen. Sie wollen vor allem den Flughafen Tegel dauerhaft offenhalten, was natürlich in mehrfacher Hinsicht eine Schnapsidee ist. Auch die Grünen sind präsent, vor der „Bio Company“ in der Turmstraße, wo sonst. Aber außer „Dein Sex. Dein Glaube. Dein Ding“ fällt ihnen auch nicht viel ein. Die CDU schimpft vor der Markthalle über „kriminelle Drogendealer“ im Ottopark, bei der SPD gibt’s einen Kugelschreiber und ein übelreichendes Erfrischungstuch, LINKE und AfD sind ebenso absent wie die ganzen Splitterparteien und Quartalsirren, die das Wahlkampfgeschehen mitunter bereichern. Verwunderlich ist das nicht, denn es ist stinklangweilig. Das Ergebnis steht faktisch fest: Es wird eine „rot-rot-grüne“ Landesregierung geben, die der großen Koalition aus SPD und CDU nachfolgt Letztere muss auf die Oppositionsbank, wo sie Gesellschaft von der AfD bekommen wird, die irgendwo zwischen 14-18 Prozent landen könnte. Vielleicht auch mehr, wer weiß das schon.
Aber ansonsten geht hier alles seinen Gang. Die ersten übernächtigten Gestalten aus halb Europa taumeln am Vormittag mit roten Augen aus den Hostels und gehen ne Runde Chillen an die Spree. Die noch nicht weggentrifizierten Biertrinkertempel sind bereits gut gefüllt, und die Karawane trotz sommerlicher Wärme dick eingepackter und bekopftuchter muslimischer Hausfrauen zieht durch die angeranzte Moabiter Lebensader Turmstraße, während die Hippen und Schicken beim Brunch in der Markthalle sitzen, wo sie auch beim Edel-Italiener und dem Neuland-Fleischer ihren Wochenendbedarf einkaufen.
Obwohl Moabit schon seit einiger Zeit im Fokus der Immobilienspekulanten steht, ist leider nur wenig Widerstand der alteingesessenen Bevölkerung gegen die drohende Vertreibung durch gut verdienende Zuzügler zu bemerken. Aufreger im Kiez ist vielmehr die Drogenszene im Ottopark am U-Bahnhof Turmstraße. In den einschlägigen Facebook-Foren wird gehetzt und gepöbelt, was das Zeug hält, und viele werden eben jene Partei wählen, die zwar gegen sozialen Wohnungsbau, Milieuschutz und Mietbegrenzungen ist, dafür aber „alle kriminellen Ausländer sofort abschieben“ will und möglichst viele nicht-kriminelle Flüchtlinge gleich mit. Ich meine die AfD, wobei sich die örtliche CDU davon nur noch graduell unterscheidet.
Die „Das Boot ist voll“-Nummer hört man allerdings auch aus einer ganz anderen Ecke. Grün angehauchte Kiezchauvinisten zetern gegen jede Form der Verdichtung und der Bebauung von Brachflächen in dem Kiez. Und selbst der linke Direktkandidat hat die Verhinderung der Bebauung des Areals der maroden und überflüssigen Jugendverkehrsschule hinter der Markthalle zu seinem Wahlkampfhit erkoren. Eigentlich wollte ich den wählen, weil er eine engagierte, ehrliche Haut ist. Aber das ging dann natürlich nicht. (Ich habe inzwischen per Briefwahl abgestimmt)
So drehe ich dann weitgehend unbehelligt von eifrigen Wahlkämpfern meine kleine Kiezrunde, kaufe Eier bei „Bio Company“,Wassermelone und Ziegenkäsepaste bei „Eurogida“, einen Cabernet Franc aus Venetien beim „Alimentari“ in der Markthalle und vier Stände weiter mein hochverehrtes Dinkelweißbrot. Dann noch einen Freiluft-Cappuccino im Café Zina, also dort, wo man in der Woche die Schicken und Reichen beobachten kann, wenn sie ihre Sprößlinge von der katholischen Privatschule gegenüber abholen. Man kann hier im Kiez gut Slalom um das allgegenwärtige Elend herum laufen und alles ganz toll Multikulti und überhaupt vielfältig finden.
An solchen Tagen wird mir schlagartig klar, warum ich gerade an Wochenenden so oft wie möglich das Weite suche, um mich auf dem Wandlitzer Landsitz vom alltäglichen Berliner Irrsinn zu erholen. Doch husten, niesen und brennende Augen haben mit diesmal einen Strich durch die Rechnung gemacht
Am Nachmittag merkt man dann doch noch, das in Berlin Wahlkampf ist. Zu einer Großdemonstration gegen Rassismus und gegen die AfD haben neben Gewerkschaftern, diversen Initiativen und dem Zentralrat der Muslime auch SPD, Grüne und LINKE aufgerufen . Daran ist zunächst einmal nichts falsch. Peinlich ist es irgendwie dennoch. Denn diese Parteien sind alles andere als unschuldig an den sozialen Zuständen in Berlin und anderswo, deren Ergebnisse die AfD jetzt ernten kann. Die wachsende Zahl von Menschen mit berechtigten Abstiegsängsten erreicht man ganz bestimmt nicht mit wohlfeilen Losungen gegen Rassismus. Es wirkt schal, wenn diese Politiker ein „solidarisches Miteinander“ in einem „sozialen Berlin“ beschwören, während fast jeder 5. Erwachsene (bis 65 Jahre) und jedes dritte Kind in der Hauptstadt in Hartz-IV-Armut lebt und viele Menschen den Verlust ihrer Wohnung fürchten. Diesen Menschen muss man ernsthafte, greifbare Angebote machen, ohne den rassistischen Müll in vielen Köpfen zu tolerieren. Doch „wir“, also „die Guten“, reden ja nicht mit diesen Menschen, oftmals kennen wir gar keine aus dieser Gruppe.
Am Sonntag werden dann wieder alle aufschreien. Kurz nach 18 Uhr wird man wissen, ob die AfD in Mecklenburg-Vorpommern nur 22 Prozent (wie bislang vorhergesagt) oder gar deutlich mehr Stimmen erhalten hat. Die Kommentare dazu in den Netzwerken und Medien brauche ich nicht zu lesen, ich weiß was drinstehen wird. Das gilt auch für die Statements der Politiker der so genannten demokratischen Parteien. Und hier werden alle zittern, wie es denn in Berlin am 18. September ausgehen wird. Und danach geht erstmal alles so weiter wie bisher. Auch in Moabit.