Hören, was Stalin nicht hören wollte

Der Text erschien am Donnerstag im “Neuen Deutschland” und ist online nur für Abonnenten abrufbar. Vielleicht noch eine Vorbemerkung. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Künstler, der damit rechnen musste von Stalins Schergen verbannt oder gar umgebracht zu werden, ein derartig kraftvolles Werk schreiben kann. Alleine das macht Dmitri Schostakowitsch zu einem Helden.

Am Dienstag gastierten die Münchner Philharmoniker unter Leitung von Valery Gergiev in der Philharmonie. Im Mittelpunkt stand die Symphonie Nr. 4 c-Moll von Dmitri Schostakowitsch, die kurz vor ihrer geplanten Uraufführung in Leningrad im Januar 1936 in den Giftschrank der stalinistischen Kulturbürokratie verbannt und erst 1961 in Moskau uraufgeführt wurde. Für den schon zuvor in Ungnade gefallenen Komponisten war das eine Zäsur, denn die Angriffe gegen ihn als »bürgerlichen und volksfernen« Künstler hatten nunmehr ein Ausmaß erreicht, das ihn buchstäblich um Leib und Leben fürchten ließ.

Es ist ein monumentales, stark von der europäischen Moderne und dabei besonders von Gustav Mahler inspiriertes Werk voller Brüche und Paradoxien. Aus den teilweise an Märsche angelehnten Themen entwickeln sich irrwitzige, teilweise groteske Klangkaskaden, die sich immer wieder in ruhige, aber oftmals schmerzvolle Bilder auflösen. Binnen weniger Takte können sich Jahrmarktsmusiken zu apokalyptisch anmutenden Clustern auftürmen, die schließlich voller Sarkasmus in idyllische Vogelstimmen münden. Der deutsche Komponist Alfred Schnittke sieht diese Symphonie denn auch als das »Lebensdrama« Schostakowitschs, der hier seine Horrorvision eines Marsches zur Hinrichtung auskomponiert habe.

Valery Gergiev – ein ausgewiesener Schostakowitsch-Kenner – versteht es meisterhaft, dieses Werk in all seinen Farben und Facetten aufzuschließen. Das Orchester folgt ihm mit beeindruckender Präzision und schöpft die riesige dynamische Bandbreite zwischen fast verloren klingendem pianissimo und berstendem forte fortissimo bis zu den physikalischen Grenzen aus. Ein Klangerlebnis, das auch der legendär guten Akustik der Berliner Philharmonie geschuldet ist. Ohne Abstriche eine ganz große Aufführung eines epochalen Werkes und vom Publikum mit entsprechenden Ovationen gefeiert.

Würden sie diesem Mann ein Orchester anvertrauen? Sie sollten es tun.Valery Gergiev am Dienstag in der Philharmonie.c: Kai Bienert 

Es war ein Abend der Kontraste, denn zuvor wurde die nur 15-minütige 3. Symphonie von Galina Ustwolskaja aufgeführt, einer Schülerin Schostakowitschs, die in Deutschland wenig bekannt ist. Die öffentlichkeitsscheue Künstlerin verbat sich zeit ihres Lebens jegliche musiktheoretische Durchdringung und Beurteilung ihrer nur 25 überlieferten Werke, darunter sechs Klaviersonaten und fünf Symphonien, wobei dieser Genrebegriff für das am Dienstag aufgeführte Stück weit hergeholt erscheint. Die dreisätzige Form wird nur angedeutet, die Orchestrierung beschränkt sich auf hohe und tiefe Register, die Mittelstimmen fehlen.Es ist ein verstörendes Werk, nicht von rhythmischen und harmonischen Linien getragen, sondern von der sorgsamen, fast minimalistisch anmutenden Platzierung einzelner Töne, lediglich unterbrochen von einer donnernden Klavierkadenz im Mittelteil. Seine Wirkung entfaltet es vor allem im Kontext mit der Rezitation eines Fürbittverses des Benediktinermönchs Hermann von Reichenau (1013 – 1054). So entsteht das Klangbild einer sehr individuellen spirituellen, christlich inspirierten Suche nach Erlösung, die aber ausbleibt.

Auch hier erwies sich Gergiev, der bereits bei der Uraufführung 1995 in Amsterdam am Pult statt, als intimer Kenner und detailversessener Orchesterleiter. Als dann anschließend voluminöse Klangteppiche die Schostakowitsch-Symphonie einläuteten, verstand man schlagartig die Dramaturgie dieses gelungenen Abends.

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