Immer Sonntags geht es in die Kirche. Das gilt jedenfalls für das erste Novemberwochenende, wenn das Jazzfest Berlin ein sehr spezielles Konzertereignis in der Kaiser-Wilhem-Gedächtniskirche anbietet. Bei der Premiere vor einem Jahr wurde die großartige Schuke-Orgel mit ihren 5000 Pfeifen und 256 Registern allerdings regelrecht entweiht, denn dem Trio „The Necks“ um den „Organisten“ Chris Abraham fiel außer sinnlosen „freien“ Klangkonvoluten nichts ein.
Das konnte nur besser werden – und wurde es auch. Respektvoll und bedächtig näherte sich Alexander Hawkins diesem mächtigen Klangerzeuger und der sakralen Akustik, ohne sich an kirchenmusikalische Hörgewohnheiten anzubiedern. Auch der Trompeter Wadada Leo Smith, der bereits am ersten Festivaltag mit seinem „Great Lakes Quartett“ begeisterter, fügte sich eher tastend und sehr behutsam in diese einzigartige Konstellation ein, bevor er begann, dem Raum mit größeren Linien auszufüllen. Mit zunehmender Spieldauer fügte sich das improvisierte Geschehen allmählich ineinander. Gerne hätte man dieser Konversation zweier beseelter Musiker noch länger gelaucht, doch nach einer Dreiviertelstunde war leider schon Schluss.
Ein herber Absturz dagegen beim ersten Teil des Schlusskonzerts am Sonntag im Festspielhaus. Jedenfalls erschließt sich nicht, was das einfältige Neofolkgedudel von Julia Holter auf dem Jazzfest zu suchen hatte. Auch die an ihr Quintett eilig rangeklebten örtlichen Streicher , können die Langeweile und Subtanzslosigkeit der Holter-Songs und ihr arg imitiertes stimmlisches Vermögen nicht kaschieren. Ärgerlich.
Wesentlich frischer und lebendiger dagegen der Auftritt des Steve Lehmann Octet., auch wenn dort mitunter mächtige Tiefen ausgelotet werden. Der Komponist und Altsaxophonist verbindet nahezu mühelos die europäische Moderne und ihre musiktheoretischen Implikationen mit der Tonsprache des modernen Jazz. Eine zupackende Rhythmussektion sorgt für ordentlich Dampf im Kessel, Cris Dingman am Vibraphon füllt den Raum, den üblicherweise in derartigen Ensembles das Klavier einnimmt, treibend und mit spannenden Klangfarben. Die Kompositionen haben vor allem durch die knackigen Bläsersätze stets eine klare Struktur, bieten aber genug Freiraum für Improvisation. Die Soli der Blaser, (außer Lehmann sei vor allem Jonathan Finlayson an de Trompete hervorgehoben) sind durchweg state of the art, die kreative Spielfreude der Band ist nahezu körperlich zu spüren. Keine Musik für den Fünf-Uhr-Tee, sondern den Zuhörer eher fordernd. Gut so, denn Langweiler gibt es auch im Jazz mehr als genug.
Ich gestehe, dass ich mir den letzten Akt des Jazzfestes 2016 verkniffen habe. Zum einen war der Kopf mittlerweile ohnehin schon recht voll. Außerdem hatte ich an die französische Pianistin und Komponistin Eve Risser recht frische, ungute Erinnerungen. Bei ihrem Solo-Auftritt am 18.Oktober anlässlich eines Publikumsgesprächs im Vorfeld des Jazzfestes nervte sie erheblich mit allerlei verkopften Geräuscheskapaden rund um das arme, entwürdigte Klavier. Daher meine Befürchtung, dass dies mit ihrem „White Desert Orchestra“ am Sonntagabend nicht besser werden würde.
Wie dem auch sei. Das Jazzfest 2016 ist Geschichte. Es war ein guter, spannender Jahrgang. Roger Williams hat überzeugend verständlich machen können, was er unter „Konversation“ versteht. Das sorgt für Vorfreude auf den nächsten Jahrgang, bei dem ich mich – versprochen! – mal wieder intensiver mit den „Nebenkonzerten“ im A-Trane und auf der Seitenbühne widmen werde.