Ich verstehe absolut nicht, warum sich über die Hälfte aller Posts, die in meiner Chronik landen, mit der Bundestagswahl beschäftigen. Und warum mir in meinem Kiez viele Menschen begegnen, die sich freiwillig und ohne erkennbare materielle Interessen auf die Straße stellen, um ihre Mitbürger mit allerlei Pamphleten anzunerven. Fast verzweifelt bemühen sich alle zu suggerieren, dass die Wahl noch lange nicht gelaufen sei.
Doch genau das ist sie, wenn man mal von dem Vierkampf um den dritten Platz absieht. Merkel wird Kanzlerin bleiben, Schulz wird ein miserables Ergebnis einfahren, es gibt nicht einmal eine „Zitterpartie“ um den Einzug einer Partei in den Bundestag. Für mäßige Spannung sorgt allenfalls die Frage, wer nach dem Urnengang als Juniorpartner der CDU/CSU agieren darf.Um diesen Job werden dann SPD, FDP und Grüne wetteifern. Möglicherweise als Dreierbündnis mit den beiden Letztgenannten.
Warum das so ist? Ganz einfach: Es gibt -abgesehen von einem zu einer neuen Partei formierten rechten Rand- keine Wechselstimmung in Deutschland. Merkel wird als verlässliche Verwalterin des Bestehenden geschätzt, während ihr zeitweilig hoch gehandelte „Herausforderer“ Schulz längst zur Witzfigur geworden ist.
Für das Hirngespinst „rot-rot-grün“ gab es nach der letzten Wahl zwar eine numerische Mehrheit, aber keine gesellschaftliche. Jetzt ist sogar die numerische außerhalb jeder Reichweite. Unfug ist das ohnehin, da weder die SPD noch die Grünen auch nur ansatzweise zu einem Politikwechsel bereit und in der Lage sind. Der Preis für „rot-rot-grün“ auf Bundesebene wäre für die LINKE die Aufgabe so ziemlich aller zentralen Positionen, ein Preis, den aber viele in der Partei offenbar zu zahlen bereit sind. Es ist bitter, abewr man muss zur Kenntnis nehmen, dass es nicht mal ansatzweise so etwas wie ein homogenes „fortschrittliches Lager“ gibt. Wer dazu tiefere Ausführungen sucht, sollte endlich mein „Reformbuch“ lesen.
Natürlich muss diese an Phasen der “Ära Kohl” erinnernde gesellschaftliche Agonie, die sich auch im beschämenden Zustand außerparlamentarischer sozialer Bewegungen manifestiert, kein Dauerzustand sein. Denkbare globale Zuspitzungen und eine massive Wirtschafts- und Finanzkrise (für die es etliche Vorboten gibt) können das Bewusstsein im gesellschaftlichen Mainstream stark verschieben. Aber bestimmt nicht in den verbleibenden fünf Wochen bis zur Bundestagswahl. Und schon gar nicht durch alberne Plakate, gestanzte Wahlkampfreden und nervige Straßenwerber.
Ich werde mich bemühen, diesen Mummenschanz weitgehend klaglos und einigermaßen heiter zu überstehen. Bald werde ich meine Briefwahlunterlagen erhalten. Was ich damit mache, weiß ich noch nicht.