Es gibt Tage, an denen es dringend notwendig ist, Berlin zu verlassen. Zwar hat sich die berüchtigte Love Parade inzwischen quasi selbst umgebracht, doch der stets zu Pfingsten veranstaltete Karneval der Kulturen steht ihr in Sachen Krach, Massenrausch, Dreck und Eventtouristen-Invasion in nichts mehr nach. Aus der eher improvisierten Selbstdarstellung der vielen in Berlin lebenden Ethnien ist längst eine durchkommerzialisierte viertägige (von Freitag bis Montag) Orgie des schlechten Geschmacks geworden.
Also ab auf den Landsitz in Wandlitz, lautete die Losung. Zwar sieht und spürt man hier immer deutlicher, was es heißt, wenn eine Gemeinde zum „Speckgürtel“ der Hauptstadt gehört, doch es ist immer noch ruhig, beschaulich und in dieser Jahreszeit nahezu unwirklich grün. Vor allem, wenn man sich am Rand des ländlichen Ortsteils Stolzenhagen aufhält, nach vorne auf den Wald und nach hinten auf ein Feld guckt
Das alles schützt nicht vor bösen Überraschungen. Bei der Einkaufstour am Sonnabend wurde man am Bahnhof Wandlitzsee von einer Horde Neonazis begrüßt, die dort irgendwie gegen den Euro und konkret gegen eine Unterkunft für Flüchtlinge in dem Ort demonstrierten. Es spricht für Wandlitz und ist in Brandenburg beileibe nicht selbstverständlich, dass reichlich Gegendemonstranten anwesend waren.
Stolzenhagen ist ein verschlafenes Straßendorf mit einem schönen See. Von dem zu DDR-Zeiten hier ansässigen landwirtschaftlichen Großbetrieb sind nur noch kümmerliche Reste vorhanden. Es gibt eine mit viel Geld aufgemotzte, aber kaum genutzte Kirche und ein besonders von Tagesausflüglern stark frequentiertes Fischrestaurant mit herrlichem Seeblick, Außerhaus-Verkauf von Frisch- und Räucherfisch und einer kleinen Badestelle. Der Rest ist tote Hose, Treffpunkte für dörfliches Leben scheinen nicht zu existieren.
Eigentlich kann man sich kaum vorstellen, dass sich daran jemals wieder etwas ändern könnte. Umso erstaunlicher und bewundernswerter, dass ausgerechnet hier ein spanisch-deutsches Paar jetzt versucht, dem Ort ein wenig kulturelles Leben einzuhauchen. Sie haben eine alte Scheune neben ihrem Haus ein wenig entrümpelt, um dort ab und zu kulinarisch-kulturelle Events zu veranstalten. Alles wirkte bei der Premiere am Sonnabend noch ein wenig improvisiert, aber absolut angenehm und ungezwungen. Gut, die Paella war zu fett, der Akkordeonist ziemlich überfordert und die Begleitläufe des Kontrabassisten klangen wie aus einem Zufallsgenerator, doch das war vollkommen egal. Man konnte einfach entspannt der Musik zuhören, ein wenig trinken, über den Innenhof schlendern und einen Plausch mit seinen ebenfalls Neu-Stolzenhagener Nachbarn halten. Und man war doppelt froh, dem Kreuzberger Terror-Event Karneval der Kulturen entflohen zu sein
Eine tolle Idee, ein toller Anfang. Bleibt die bange Frage, ob die Alteingesessenen da irgendwie mitziehen. Und wo überhaupt die Reise in der großen Gemeinde Wandlitz hingeht. Vieles wirkt beklemmend; sei es die Mischung aus altem DDR-Adel und Zugereisten in den noblen Grundstücken am für die Öffentlichkeit weitgehend unzugänglichen Seeufer, seien es die schrecklichen Bausünden auf neu erschlossenen Grundstücken oder auch die gespenstische bleierne Stille im eigentlich sehr schönen und sehr alten Dorfkern von Wandlitz.
Natürlich sollte man sich mit seinem Umfeld beschäftigen, doch eigentlich bin ich hier ja regelmäßig, weil ich mich vom Stress, vom Lärm und dem allgegenwärtigen Wahnsinn in Berlin ein wenig erholen möchte. Hauptgegner ist auf meinem Refugium ist dann mal nicht der Kapitalismus im Allgemeinen und das Treiben der ökonomischen und politischen Gentrifizierer-Banden in Berlin-Moabit im Besonderen, sondern der märkische Sand. Dem gilt es hier im täglichen Kampf – unter Verzicht auf künstlichen Dünger – eine einigermaßen brauchbare Gemüseernte und eine halbwegs geschlossene Rasenfläche abzuringen. Was für Brandenburger Bauern jahrhundertelang eine Existenzfrage war, ist für mich ein Hobby, anstrengend aber spannend und mit vielen kleinen Erfolgserlebnissen. Und dann sind da noch der oben erwähnte Blick, frischer Fisch und frischer Spargel von nebenan und das Glas Wein auf der Terrasse. Genuss ist bekanntlich Notwehr.