Als journalistischer Tagelöhner muss man auch mental flexibel sein. Und so ging es am vergangenen Wochenende direkt vom Gewerkschaftstag der GEW zum Bachfest nach Leipzig. Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar: Barockkantanten statt Bildungspolitik, Sonaten statt Satzungsdebatten.
„Vita Cristi“ ist das diesjährige Motto des Festivals, welches alljährlich für neun Tage das Werk des wohl bedeutendsten Barockkomponisten zelebriert und Verbindungslinien zu anderen Tonkünstlern zieht. Leipzig ist nicht nur der richtige, sondern der einzig denkbare Ort für ein derart aufwändiges Fest. Schließlich hat Johann Sebastian Bach hier von 1723 bis zu seinem Tod im Jahr 1750 als Thomaskantor gewirkt und einen Großteil seiner kirchenmusikalischen Werke geschrieben. Und wer angesichts der Aufführungen in den historischen Spielstätten wie der Thomas- und der Nikolaikirche keine Gänsehaut bekommt, muss schon ziemlich verroht sein.
Bach ist Seelenhygiene, Bach ist Spiritualität, Bach ist Schönheit, Bach ist Kraft. Aber wahrlich nicht nur für Christen oder Anhänger anderer mehr oder weniger abgedrehter Heilslehren. Die Festivalmacher haben zudem schon lange begriffen, dass man eine derartige Veranstaltungsreihe nicht auf den Elfenbeinturm einer bildungsbürgerlichen Elite beschränken darf. Man geht nicht nur in die großen Säle und Kirchen, sondern auch auf den Marktplatz, in die alten Höfe, in Jazzclubs. Man bietet nicht nur teure Konzerte, sondern viele kostenfreie Events. Und das mit Erfolg: Insgesamt wird mit bis zu 80.000 Besuchern der insgesamt 115 Veranstaltungen gerechnet.
Manchmal erinnert das allerdings an die Spielregeln des Privatfernsehens und des Internets. Natürlich ist es schön, wenn man dem in diesem Jahr wieder großartig aufgelegten Thomanerchor nebst guten Orchestern und Solisten ohne Eintritt lauschen darf, doch die Werbeblöcke sind ähnlich penetrant wie bei RTL, SAT 1 oder GMX. So musste man am Sonntag in der Thomaskirche nach den ersten Teilen einer bezaubernden Kantate die eifernde Predigt des örtlichen Pfarrers über sich ergehen lassen, bevor man auch noch den Rest hören durfte. Natürlich kann es Sinn machen, geistliche Werke in ihrem liturgischen Kontext aufzuführen, aber bitte nicht mit Propagandareden für kirchliche Schulen und unsäglichen politischen Gleichnissen gewürzt. Man kann dies meiden, vergleichbare Aufführungen ohne Werbeblöcke sind allerdings teuer. Wie ein werbefreier GMX-Account.
Dennoch kann man kaum von einer „Reklerikalisierung“ des Bachfestes sprechen. Mit dem Freiburger Barock Orchester wurde ein Ensemble für mehrere Konzerte verpflichtet, das die Ohren für Struktur, Tiefe und Klarheit der Bach’schen Werke öffnet und das die Improvisation als Grundpfeiler dieser Musik deutlich macht. Erfrischend auch die vielen Konzerte mit halbprofessionellen und Nachwuchskünstlern, die belegen, dass das Bachfest in Leipzig kein potemkinsches Dorf, sondern das Sahnehäubchen einer dort gepflegten lebendigen Musiktradition ist.
Es waren jedenfalls wunderschöne Tage in Leipzig, und jedem, der spontan genug ist, sei geraten, in den verbleibenden Tagen bis zum Ende des Bachfestes am Sonntag der sächsischen Möchtegern-Metropole einen Besuch abzustatten. Ich freue mich jedenfalls schon jetzt auf das Bachfest 2014.