Zum Abschluss: Jazz und Politik

Das Abschlusskonzert des 51. Berliner Jazzfestes am Sonntag begann mit einem klaren politischen Statement. Der Musikjournalist und Jazzfest-Moderator Ulf Drechsel forderte eindringlich, die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge würdig zu behandeln. Und vor allem daran zu denken, dass der Westen – also auch mir – maßgeblich für die Ursachen der Fluchtbewegungen verantwortlich sind. Außerdem sei gerade Jazz als von Migration geprägte Musik dafür prädestiniert, ein Zeichen für ein Miteinander der Kulturen zu setzen

Interkultureller Dialog mal anders: Sure, Psalm und persisches Gedicht als barocker Chorsatz

Das passte sehr gut zu den beiden ersten Auftritten des Abends. Das Orchester “Diwan der Kontinente” wurde 2011 von zwei Jazz-Absolventen der Berliner Musikhochschule gegründet und hat den Anspruch alles aufzunehmen, was seine Mitglieder an kulturellem Background nach Berlin mitgebracht haben. Im Auftrag des Jazzfestes haben die Iranerin Cymin  Samawatie und der gebürtige Inder Ketan Bhatti eine Art Suite komponiert, getragen von der Idee, die Heimatklänge der 22 Musiker aus zwölf Nationen zu integrieren. Und so wächst zu einer Art universeller Kammermusik mit viel improvisatorischer Freiheit zusammen, was zusammen gehört, und auch chinesische Mundorgel, iranische Kelchtrommel oder armenische Langflöte fügen sich nahtlos in das gewohnte Klangbild ein. Kein Ethno-Quatsch, sondern einfach nur gut durchdachte und spielfreudig dargebotene Musik voller Überraschungen. Einer der Höhepunkte sicherlich die gleichzeitige Darbietung eines hebräischen Psalms, einer arabischen Koransure und eines persisches Gedichtes im Form eines barocken Chorsatzes.

Hinsetzen und losspielen ist Louis Maholo-Maholos Devise. Doch am Sonntag wirkte sein Quartett nicht sonderlich inspiriert

Auch der Schlagzeuger Louis Moholo-Moholo steht für die Migrationsgeschichte des Jazz. 1964 floh er vom dem südafrikanischen Apartheidsregime nach Großbritannien und kehrte erst 2005 wieder in sein Heimatland zurück. In London wurde er einer der wichtigsten Motoren der freien britischen Jazzszene. Seine Auftritte können großartig sein, voller Kraft und Spiritualität. Doch am Sonntag wirkte sein Quartett eher uninspiriert. Schade.

Das Jazzfest 2015 ist Geschichte. Es war ein guter Jahrgang mit vielen inspirierenden, spannenden Konzerten – und auch einigen Flops. Noch ist die Handschrift des neuen Leiters Richard Williams nicht eindeutig zu erkennen, denn eine möglichst große Bandbreite ist noch kein Konzept. Im kommenden Jahr weiß man mehr.

IV: Wie ein misslicher Sonnabend doch noch gerettet wurde

Bis zum Abend war es ein Tag für schlechte Laune. Ab dem Vormittag wälzten sich rund 5000 hauptsächlich aus Ostdeutschland herangekarrte rassistische Vollpfosten durch die Berliner Innenstadt. Weniger bedrohlich, aber dennoch ärgerlich dann um 15 Uhr das Konzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, welches den 3. Tag des Berliner Jazzfestes eröffnete. Die drei australischen Musiker des Trios “The Necks” verfolgen seit fast 30 Jahren ein beinhartes (Geschäfts)Prinzip: Keine Kompositionen, keine Absprachen, einfach raus und spielen, egal womit, egal wo.

Wohl selten ist eine große Kirchenorgel so respektlos behandelt worden, wie dieses 1962 von der Firma Karl Schuke erbaute und 2005 sanierte 5000-Pfeifen-Meisterwerk mit seinen 256 Registerkombinationen. Nach einigen freien Tonfolgen verlegte sich Chris Abrahams darauf, nur noch schmierige und manchmal unangenehm zirpende Cluster übereinander zu türmen, denen Tony Buck und Lloyd Swanton allerlei Gezischel und Gebrumme beisteuerten. Dazu hätte auch ein Synthesizer der 100-Euro-Klasse gereicht. Während sich meine Begleiterin unangenehm an die “Eso-Kacke” in einem Yoga-Kurs erinnert fühlte, dachte ich an eine mit elektronisch verstärkten Metallplatten behängte und beständig schreiende Frau in der New Yorker “Knitting Factory” irgendwann in den 1990er Jahren. Damals wie heute gibt es aber zahlungsbereite Menschen, die derartigen Darbietungen mit verzücktem bis bis entrücktem Gesichtsausdruck folgen. Nicht nur wir suchten allerdings nach einer halben Stunde entnervt das Weite.

Am Abend besserte sich die Laune allerdings schlagartig. Der armenische Pianist Tigran Hamasyan eröffnete seinen Auftritt im mit zarten, neoromantischen Phantasien. Allmählich verlässt er diese Sphäre und begibt sich in uralte hymnische Klangwelt seiner Heimat, was teilweise ausgesprochen orientalisch anmutet. Lautmalerisch untersteicht seine Stimme die Themen, langsam steigen Schlagzeug und Kontrabass darauf ein . Doch kaum hat man sich wohlig darauf eingelassen, wandert das Trio schon in harte Metal-Gefilde, die sich wie von Geisterhand wieder in molllastiger Romantik auflösen. Und weiter geht der rastlose Ritt, immer dichter wird der Teppich von Bass und Schlagzeug von dem Hamasyan dann in freie tonale Strukturen abhebt; nix mehr Moll, sondern übermäßig und vermindert ist jetzt angesagt, auch die Rhythmik wird vertrackter, Hardbop und Modern Jazz klingen an. Dann wieder die romantische oder armenische Powerbremse und weiter gehts. Man hört, dass der 29jährige Hamasyan noch recht ungestüm auf der Suche ist, doch was er und wie er sich in der Musik bereits gefunden hat ist beachtlich und macht Appetit auf weitere Begegnungen mit diesem Pianisten.

Entspannt im Hier und Jetzt: Charles Lloyd beim Berliner Jazzfest

Der Tenorsaxophonist Charles Lloyd ist dagegen jemand, der sich mit seinen 77 Jahren definitiv gefunden hat und dennoch immer weiter nach musikalischer Freiheit sucht. Behutsam leitet er sein hellwaches Sextett (u.a Eric Harland an den Drums und Gerald Clayton am Piano) durch seine 2013 entstandene “Wild Man Dancing” – Suite, ein sowohl retrospektiv als auch visionär angelegtes Werk mit sechs Sätzen. Noch immer hat Lloyd einen ganz großen Ton, mal verhalten fragend, mal rauchig-schwelgend, mal messerscharf und wütend. Und dass in seinem Sextett außer der klassischen Rhythmusgruppe auch eine griechische Kniegeige und ein ungarisches Hackbrett ihren gleichberechtigten Platz gefunden haben, zeugt von ungebrochener Lust am Neuen, zumal sich diese eher jazzuntypischen Klangerzeuger als echte Bereicherung und Erweiterung des eigenen Klanghorizonts erwiesen.

So fand ein zunächst recht schrecklicher Tag ein wunderbares Ende, noch abgerundet mit einem guten Glas portugiesischem Rotwein, einem Touriga nacional aus dem Alentejo. Aber das ist eine andere Geschichte.

CD-Tipp: Charles Lloyd: Wild Man Dance – Live At Wroclaw Philharmonic 2013

 

 

III. Ein wenig Altersmilde

Am Sonnabend morgen wird man in Berlin-Moabit eigentlich immer mit Musik begrüßt. Bei Wind und Wetter zieht ein Roma-Trio durch die Seitenstraßen. Mit Trompete, Akkordeon und einer Handtrommel wird dem halbgentrifizierten Stadtteil ein wenig Leben eingehaucht. Ich habe den Eindruck, dass diese Musiker im Laufe der Jahre immer besser geworden sind. Geboten wird eine Art Medley aus populären Melodien (z.B. „When the Saints“ ) und einfachen Tanzstücken, stets mit leichtem „Balkan-Groove“. Irgendwie ist das auch Jazz.

Altmeister Keith Tippett ……

Natürlich ganz anders, als das, was Jazzfest-Leiter Richard Williams bei seinem viertägigen Perforceritt durch die Jazz-Stilkunde am Freitag auf die Bühne des Festspielhauses stellte. Mit der der Suite The Nine Dances Of Patrick O’Gonogon war das Keith Tippett Octett für die kammermusikalische Abteilung zuständig. Die britische Jazz-Ikone hat in den vergangenen 50 Jahren so ziemlich alles gemacht, was man als Pianist, Komponist und Bandleader so machen kann und braucht niemandem mehr etwas beweisen. Mit 68 gönnt sich der wilde Stilmarodeur vergangener Jahrzehnte nunmehr ein klein wenig Altersmilde, ohne seine gut disponierten Bläser – darunter einige seiner Schüler – von mitunter heftigen Ausflügen in die Welt der freien Melodien abzuhalten.

…und seine Jünger

Die dieser irisch inspirierten Komposition mitunter immanente elegische Strenge droht daher niemals im Easy Listening zu versanden. Und das ist auch gut so, weil Easy Listening der Totengräber des Jazz ist. Vom Hocker gerissen hat mich das dennoch nicht, das Gefühl einer gewissen Altbackenheit mochte nicht so recht weichen.

 

II:Die ganze Palette, auch wenn’s manchmal weh tut

Der neue Jazzfest-Leiter Richard Williams hatte angekündigt, möglichst viele Facetten des Jazz zu präsentieren und außerdem einen besonderen Fokus auf das Musikschaffen in Berlin zu legen. So gesehen war das Eröffnungskonzert am Donnerstag schlüssig. Das 2010 in Berlin gegründete „Splitter Orchester“ versteht sich als Vertreter eines Stils, der sich „Echtzeitmuik“ nennt (was für ein bescheuerte Name!) Dieses Genre soll angeblich Mitte der 1990er Jahre im Bezirk Prenzlauer Berg entstanden sein.

Nun konnte ich Prenzlauer Berg noch nie sonderlich leiden, aber ich erinnere mich tatsächlich an einige Besuche in (längst verblichenen) Jazzclubs, wo eher verhärmt wirkende Musiker – oft aus dem Umfeld der Musikhochschule Hanns Eisler – merkwürdig verkopftes, ungenießbates Zeugs als Avantgarde zelebrierten.

Und nun also das Splitter Orchester: Zwei Dutzend Musiker als Staffage für einen Computer-Nerd, der keine Hacker-Programme schreibt und auch nicht mit einem Start Up an die Börde will, sondern an Soundkollagen friemelt. Da furzt dann auch mal eine Posaune, ein einsamer Streicherstrich ist zu vernehmen, eine Trommel schabt und scheppert, jedes Orchestermitglied hat ab und an seine Eingebung. Spontanität wird demonstriert, es gibt keinen Dirigenten, stattdessen reicht man sich Zettel. Der Rest ist Fiep, waber, zirp, zischel. Musik für Menschen, die zum Lachen in den Keller gehen, und zum Weinen auch.

Es folgte ein eher der Old school zuzuordnender Gig: Ein klassischen Trio (Klavier, Kontrabass Schlagzeug) mit Sängerin. Sowas ist manchmal langweilig, manchmal ganz nett – aber diesmal war es ziemlich gut. Cécile McLorin Salvant kann mit ihrer exzellent ausgebildeten Stimme anscheinend alles machen, was sie will – aber widersteht – wenigstens meistens – der Versuchung, technische Kabinettstückchen aneinanderzureihen. Dazu ein Begleittrio, dass nicht nur routiniert seine Rhythm Changes aneinanderreiht, sondern mit Liebe zum Detail agiert.

Lässt die Sau raus: Vincent Peirani in seinem Element

Und dann kam ER. Der Franzose Vincent Peirani gehört seit Jahren zur Elite der schmalen Zunft der Jazzakkordeonisten und sorgt mit seinem kongenialen Sopransaxophon Partner Emile Parisien international für Furore. Zum Jazzfest haben die beiden eine hochenergetische Rhytmussektion mitgebracht, zusammen brennen die fünf Musiker ein Feuerwerk nach dem anderen ab, mit fast schon beängstigender rhythmischer Präzision. Und endlich erlebt man mit Yoann Serra wieder mal einen Ausnahmedrummer, dem sie in der Kindheit offenbar kein Ritalin verabreicht haben. Jetzt wird der hyperaktive junge Mann vermutlich in Ketten gehalten, die nur zu Auftritten abgelegt werden. Dann entschwindet er in ein Paralleluniversum, hält telepathischen Kontakt mit Ginger Baker, Stewart Copeland, Dave Weckl und Dennis Chambers und trommelt alles in Grund und Boden. Doch die anderen sind stark genug um das aufzufangen und es grooved mörderisch. Dazu spielt Bassist Julien Herné immer die richtigen „falschen“ Töne, und so landet manche harmonische Wendung genau da, wo sie angenehm wehtut. Das ist Jazzrock reloaded, aber mit Zukunftsoption. Hoffentlich sind die, die beim Splitter Orchester zum Lachen in den Keller gegangen sind, wieder rechtzeitig nach oben gekommen. Das Versprechen einer breiten Palette hat Festivalleiter Williams am Eröffnungstag jedenfalls eingelöst. Das macht Appetit auf mehr.

 CD-Tipp: Vincent Peirani : Living Being

 Jazzfest Berlin noch bis zum 8.November

 

 

Auf der Suche nach dem “spirit”

Zweimal im Jahr verlasse ich für mehrere Tage meine Politik- und Weinsphären, um in die Welt der Musik einzutauchen. Sowohl das Leipziger Bachfest als auch das Berliner Jazzfest sind für mich nicht nur Tage der Erbauung, sondern der Seelenreinigung.
Jetzt ist es wieder soweit. Um 19 Uhr wird als Opener im Haus der Berliner Festspiele das  „Splitter Orchester“ sein Statement zur möglichen Synthese freier und komponierter Musik abgeben. Das wird laut, das wird vielleicht auch ein bisschen anstrengend, aber es wird den Kopf freiblasen für die vielen weiteren Botschafter des deutschen und globalen Jazz, die sich bis zum Sonntag in Berlin tummeln.
Diesmal bin ich überhaupt nicht vorbereitet, habe mir im Vorfeld fast nichts von den angekündigten Bands und Solisten angehört, da ich noch bis gestern abend mit meinem 200.000 -Zeichen-Manuskript für ein Buch zur Flüchtlingskrise beschäftigt war. Das kann ein Vorteil sein: Keine Erwartungen, keine Vorbehalte, einfach nur eintauchen und treiben lassen. Und genau das ist das Wesen des Jazz: Kein definierter Musikstil sondern ein „spirit“.

Wenn er nicht den “spitit hat”, wer denn dann? Charles Lloyd spielt m Sonnabend mit seinem “Wild man dance project”

Im Magazin „Hintergrund“ schrieb ich dazu vor ein paar Wochen: “Was haben der Blues aus dem Mississippi-Delta, polyrhythmische Klangkaskaden aus Downtown Manhattan und akribisch durchkomponierte kammermusikalische Suiten  europäischer Avantgardisten miteinander zu tun?  Natür lich gibt es afro-amerikanische Traditionslinien des Jazz, die unter anderem Worksongs, Blues,  Gospel, Spirituals, Dixieland, Swing, Bebop,  Hardbop und Cool umfasst. Doch Mischungen dieser Ausdrucksformen und Adaptionen wie Latin-Jazz, Rhythm and Blues, Jazzrock und Folkjazz, vielfältige Zitate in der  „neuen Musik“, im Rock und beim Hip-Hop  sowie die musiktheoretische Durchdringung  der Jazzgeschichte bis hin zu einer quasi  wissenschaftlichen Jazz-Harmonielehre haben zu einer Vielfalt geführt, die sich einer Kategorisierung weitgehend entzieht – und  Musikern in der ganzen Welt ganz neue Freiräume eröffnet“.

Ob das Jazzfest 2015 „nur“ eine Aneinanderreihung von interessanten Konzerten war, oder in seiner Gesamtheit und seiner Atmosphäre besagten spirit hatte, weiß man erst nach dem letzten Ton am Sonntagabend. Ich warte gespannt auf die Handschrift des neuen musikalischen Leiters Richard Wiliams.
Den Eröffnungstag des Jazzfests habe ich jedenfalls angemessen begonnen. Zum Frühstück gab’s nicht nur Milchkaffee und frisch gepressten Saft (Rote Bete, Möhren, Apfel – lecker!!), sondern auch Miles Davis („Human nature) und Michael Wollny („be free, a way“). Alles wird gut, das „Splitter Orchester“ kann kommen

Die letzte Tomate

Es ist soweit. Auf dem Teller liegt die letzte Tomate des Jahres. Als ich sie vor mehr als zwei Wochen vom fast schon verdorrten Strauch aus meinem Beet in Wandlitz holte, war sie noch grün mit leichten orangenen Einsprengseln, Ich habe sie nachreifen lassen und werde sie bald essen, mit Salz, Pfeffer, gehackten Basilikumblüten und etwas Olivenöl. Dazu eine Scheibe korsischer Schafskäse.

Das war’s dann bis zum nächsten Mai oder Juni.

Das mit der letzten (frischen) Tomate (in diesem Jahr) meine ich vollkommen ernst. Ich kaufe keine Treibhaustomaten und auch keine aus Afrika. Auch nicht ausnahmweise, sondern gar nicht. Seit ich meinen Garten in Wandlitz bewirtschafte, habe ich doofer Städter endlich ein Gefühl für Regionalität und Saisonalität von Obst und Gemüse bekommen. Mein eigenes Beet, aber auch der kleine Biohof in Wandlitz und die Tische der Hobbyanbauer mit der „Kasse des Vertrauens“ sind ein ausgezeichneter Wegweiser. Derzeit werden außer Kürbis vor allem Kartoffeln, Möhren, Pastinaken, Petersilienwurzeln, Rote Bete, Rotkohl, Walnüsse und Äpfel angeboten.

Zurück zur Tomate. Sie wird der krönende Abschluss eines tollen Tomatenjahres. Nachdem im vergangenen Jahr die Braunfäule bei mir wütete, haben sich alle Pflanzen diesmal hervorragend entwickelt, von der kleinen gelben Cherrytomate bis zur großen Fleischtomate. Wochenlang habe ich fast jeden Tag in irgendeiner Form Tomaten zu mir genommen; einfach so zum Naschen, als Salat, geschmort, als Soßenbestandteil oder auch als frisch gepresster Saft – es ist nie langweilig geworden.

Doch nach dieser Tomate ist Schluss, bis es die ersten europäischen Freilandtomaten gibt. Meinen winterlichen Bedarf decke mit der einzigen Konserve, mit der ich mich reichlich bevorratet habe: „Pelati non Pelati“ (ungeschälte Tomaten im eigenen Saft mit Salz, Basilikum und einem Schuss Limonensaft) von der Bio-Fattoria La Vialla.

Manch einer sieht meine saisonaleTomaten- (oder auch Erdbeeren-) askese als fundamentalistisch-sinnlosen Verzicht an. Aber für mich ist die Abkehr von der totalen Beliebigkeit des Obst- und Gemüsekonsums kein Verzicht, sondern ein großer Gewinn. Ich freue mich schon auf die erste Tomate, die ich dann mit großem Genuss verspeisen werde. Und nicht vergesen: in sechs Monaten gibt’s schon wieder Spargel!

Kleiner Hilferuf

Ich schreibe derzeit ein Buch zur aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland. Es ist ein Auftragswerk; mehr Faktencheck als moralisch-politisches Statement, weniger linke oder bürgerlich-demokratische Empörungslyrik, mehr nüchternes Sezieren der herrschenden Politik und des aktuellen Diskurses. Zielgruppe sind laut Verlag in erster Linie ältere, verunsicherte Bürger der ehemaligen DDR. Die soll ich mit dem Buch “da abholen, wo sie gerade sind” und dennoch antirassistische und antivölkische Flagge zeigen. Wird gemacht! Am 15.11. ist Manuskriptabgabe (sic!!) Wer mir helfen will, kann mir gerne interessante Links schicken. Ganz dringend: Was ist der genaue Unterschied zwischen anerkannten Flüchtlingen und Asylberechtigten (falls es einen gibt)? Wie kann sich die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme und die öffentliche Daseinsvorsorge auswirken? Aber auch andere spannende Aspekte sind willkommen.
P.S. Habe heute rund 20.000 Zeichen geschrieben und gönne mir jetzt 2 Gläschen Bönnigheimer Sonnenberg Lemberger 2012 von Dautel. Ein Traum von reifen Sauerkirschen und trockenen Waldbeeren, ein feiner Strauß Kräuter, feine Säure, klar strukturierte Tannine, optimaler Holzeinsatz. Und jetzt der Kick: Dazu eine gut gewürzte Öko-Blutwurst!

Zum Geburtstag gibt’s ein Attentat und hilflose Helfer (aber auch Austern)

Eigentlich wollte ich am Sonnabend nur in aller gebotenen Ruhe meinen 60. Geburtstag begehen. Doch der Alltag ist erbarmungslos. Zum Frühstück gibt’s ein Messerattentat auf eine “zu flüchtlingsfreundliche” Kandidatin für den OB-Posten in Köln. Da hat jemand PEGIDA und Seehofer konsequent weitergedacht. Und als 60jähriger hat man das Privileg, sich sofort an Josef Bachmann zu erinnern, der am 11. April 1968 drei Schüsse auf den Studentenführer Rudi Dutschke abfeuerte – inspiriert von der wochenlangen Pogromhetze der Springerpresse.

Wenig später nervt im Radio ein Pfarrer, der am Abend mit einer Lichterkette quer durch Berlin irgendwie ein Zeichen für Flüchtlinge setzen will. Eigentlich ein relativ harmloses Unterfangen, doch wenn man dann hört, dass auch CDU, SPD und Grüne dazu aufrufen, kommt der Morgenkaffee schon ziemlich weit hoch.

Flüchtlingshelferprotest vor dem Rathaus. Aber wohin mit der Wut?

Am frühen Nachmittag dann nach Austernkauf im Lafayette ein Abstecher zur Kundgebung der Flüchtlingshelferszene vor dem Roten Rathaus., Ein paar hundert sind gekommen, vielleicht auch 1000, die dort inmitten einer gigantischen Baustelle den Wutreden ihrer Sprecher gegen die Menschenverachtung und die Unfähigkeit der Berliner Senats lauschen. Eine gute Sache also, auch wenn es mir allmählich auf den Zeiger geht, wie sich die Helfer in ihren Foren permanent als “wunderbare Menschen” oder gar “Helden” bauchpinseln und mit ihrer totalen Erschöpfung kokettieren. Ja, das unermüdliche, praktische Engagement der Helfer, besonders an der Erstaufnahmestelle in Berlin-Moabit, ist bewunderswert. Aber allmählich sollte man den Konstrukteuren und Verwaltern des Flüchtlingselends wirklich auf den Pelz rücken, und sich von diesen feisten Gestalten nicht auch noch permanent für das “vorbildliche bürgerschaftliche Engagement” loben lassen. Sonst wird man irgendwann zum nützlichen Idioten dieser menschenverachtenden Politik und entlässt den Staat aus seiner Pflicht.

Ein Lichtblick dann ein großartiger Artikel von Heribert Prantl in der Wochenausgabe der Süddeutschen Zeitung zu dem ganzen Flüchtlingskomplex. Dort wird auch der “Offene Grenzen für Alle”-Fraktion (die in der Helferszene viele Anhänger hat) der Unsinn dieses Ansatzes vor Augen geführt. Unbedingt lesen!

Dinner for two in Moabit – und kein schlechtes Gewissen

Aber eigentlich hatte ich gestern ja meinen runden Geburtstag. Also Schluss damit: Bach auflegen, Austern knacken, Lachs aufschneiden und den (hervorragenden) Crémant brut von Poll-Fabaire (Luxemburg) öffnen – das kleine “Dinner for two” konnte beginnen. Genuss ist schließlich Notwehr

 

“Hallo Süße” oder: Mein Spamfilter hat glücklicherweise versagt

Mails mit der dem Betreff “Hallo Süße” werden in der Regel von meinem Spamfilter zuverlässig aussortiert. Doch diesmal hat das glücklicherweise nicht geklappt. Denn dahinter verbarg sich die Einladung zu einem Geschmacksworkshop, bei dem die sensorische Interaktion zwischen edelsüßen Weinen und diversen Speisen erkundet werden sollte. Bei Desserts und Käse ist diese Kombination mittlerweile allgemein anerkannt, und auch bei diversen Spielarten der asiatischen Küche sind süße Weine fast schon Mainstream. Und sonst? Spannende Frage.

Geladen wurde in die Cordobar in Berlin-Mitte, also jenen Ort, wo sich die Wein-Hipster treffen, um hinterher auf Facebook zu erzählen, was sie für geile Superweine gebechert haben und wie breit sie danach waren. Doch diesmal war zu früher Stunde in kleiner Runde seriöses Tasting angesagt. Es ging um die Winzerin Heidi Schröck aus Rust im Burgenland und ihre sensationelle Kollektion von edelfaulen Ausbruch-, Spätlese und Beerenausleseweinen, die sie seit über 25 Jahren auf vier Hektar kultiviert. Und es ging um ein paar geschmackliche Basics, die von der unglaublich charmanten Wiener Sensorikerin (diesen Beruf gibt es offenbar tatsächlich) Elisabeth Buchinger erklärt wurden. Wenn dann von “frontalnasalem” bzw. “retrotronasalem” Riechen die Rede ist, klingt das zunächst etwas abstrakt, aber wer sich die Nase zuhält, dann an einer süßen Kräuterpastille lutscht und schließlich die Nase wieder freigibt kapiert schnell, worum es geht. Auch die Zugabe von Salz zu einem bitteren, säuerlichen Grapefruitsaft macht einiges deutlich, denn dieser schmeckt dann kaum noch bitter und sauer, dafür umso süßer.

Heidi Schröck in ihrem Süßweinparadies

Dermaßen instruiert ging es an den praktischen Part, auf die Suche nach “süssophilen” und “süssophoben” Speisen, wie es die (ebenfalls unglaublich charmante) Veranstalterin Dorli Muhr von der Agentur Wine&Partners in ihrer Einladung formuliert hatte. Geboten wurden 15 Häppchen, von der Currywurst bis zum Apfelmus, vom Stilton-Käse bis zum Pastrami-Schinken,  auch ein Rote-Bete-Risotto, eine Gewürzgurke und eine geräucherte Hähnchenbrust durften nicht fehlen. Es wurde eine spannende Reise durch die Vielfalt edelsüßer Weine und ihrer Kombinationsmöglichkeiten. Denn Süßwein ist nicht gleich Süßwein, zwischen einer, jungen spritzigen Spätlese und einem fassgereiften Ausbruch Jahrgang 1989 liegen Welten. Mal hier ein Säurekick, mal da Karamell und Honig oder leichte Sherrynoten.

18 kommunikative Weinfreunde begaben sich auf diese Reise, darunter Gastronomen, Händler und Schreiber. Es gab Erweckungserlebnisse und Abstürze, verzückte “Ahhhs” und brummige “Hmmhs”. Meine persönlichen Favoriten waren der Ruster Ausbruch 2011 “Aus den Flügeln der Morgenröte” zum Gurkensalat und der Ruster Ausbruch 1994 zum Stilton und zum Rote-Bete-Risotto. Andere sahen das anders, aber das gehört dazu. Jedenfalls ein großartiger Nachmittag, der viel Stoff zum Nachdenken und zum experimentieren lieferte. Und die Weine von Heidi Schröck sind sicherlich eine sehr gute Adresse für den vertieften Einstieg in die Welt der Kombination von edelsüßen Weinen und Speisen. Dennoch: Zur Currywurst werde ich wohl auch künftig lieber ein anständiges Pils trinken.

 

 

 

 

 

Ein paar Austern auf den DDR-Geburtstag

Vor 66 Jahren wurde die DDR gegründet, der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden. Das war eine ziemlich gute und angesichts der Erfahrungen mit dem Faschismus auch naheliegende Entwicklung. Die Sache ist bekanntlich gründlich schief gegangen. Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ließen eine gedeihliche Entwicklung dieses Staates nicht zu, die beträchtlichen sozialen Errungenschaften wurden durch einen bis ins Absurde reichenden Kontrollwahn des Führungsapparates konterkariert, die dogmatische Realitätsverweigerung war stellenweise nur noch lächerlich. Als Wessi, der 12 Jahre als Redakteur der Ostberliner Sairezeitung „Junge Welt“ eine Art Bonsai-DDR genießen durfte, weiß ich (zumindest ein bisschen), wovon ich rede. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Mehrheit der DDR-Bürger diesen Staat in dieser Form nicht mehr wollten. Ob sie das wollten, was sie dann bekamen, ist eine andere Frage.

Das Scheitern der DDR ist insofern tragisch, weil es sich tagtäglich beweist, dass eine Gesellschaftsordnung, in der die Herrschaft des Großkapitals gebrochen wird, eigentlich auf der Tagesordnung stehen müsste. Kapitalismus heißt in Deutschland eben nicht nur ein gewisses Maß an bürgerlichen Freiheiten und relativer Wohlstand für große Teile der Gesellschaft. Sondern auch Armut und soziale Ausgrenzung für Millionen, Entsolidarisierung, Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten, brutales ökonomisches Dominanzstreben in Europa, Umweltzerstörung aus Profitinteresse. Abhilfe ist leider nicht in Sicht, diese Politik ist im Großen und Ganzen mehrheitsfähig, eine relevante gesellschaftliche Strömung für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen (Macht)verhältnisse ist nicht erkennbar. Und bei der nächsten Wirtschaftskrise wird der zivilisatorische Lack dieser Gesellschaft noch weiter abbröckeln, in einem Ausmaß, das ich mir gar nicht ausmalen mag.

Von den linken Debatten über die großen politischen Entwürfe habe ich mich verabschiedet, sie erscheinen mir wenig realitätstauglich. Ich versuche mich materiell über Wasser zu halten (was als freier Journalist gar nicht so einfach ist) und mische mich hier und da ins Geschehen ein, sowohl publizistisch, als auch bei Mieterinitiativen in meinem Wohnbezirk. Ich werde am Sonnabend auch auf die große Anti-TTIP-Demo gehen, denn dieses „Freihandelsabkommen“ zwischen den USA und der EU ist der blanke Horror. Und ich genieße meine kleinen Freuden des kapitalistischen Alltags: Gute Konzerte, guter Wein, gutes Essen, ein paar Reisen, mein (ironischerweise in Wandlitz befindliches) Wochenendhäuschen samt Garten. Genuss ist schließlich Notwehr, auch und gerade im Kapitalismus. In diesem Sinne knacke ich heute, am 66. Gründungstag der DDR, ein halbes Dutzend Austern und trinke dazu einen fränkischen Weißburgunder (es muss nicht immer Elbling sein)