Der folgende Text von mir erschien am Sonnabend in der Wochenendbeilage von „Neues Deutschland“. Da er im Netz nur für Abonnenten abrufbar ist, habe ich ihn in meinen Block gestellt.
Gibt es in Deutschland eigentlich ein „Reformlager“? Diese Frage kann man uneingeschränkt mit Ja beantworten. Es gibt sogar nicht nur eins, sondern ganz viele Reformlager. Bei genauerer Betrachtung kommt man gar zu dem Schluss, dass Deutschland ein einig Land von Reformern ist, denn jede relevante Partei hat umfangreiche Reformpläne für diverse Bereiche im Angebot. Nicht zu vergessen die mächtigen Institutionen und Verbände, die ebenfalls lauthals Reformen fordern.
Schwieriger wird es, wenn sich die Frage auf ein »fortschrittliches« oder gar »linkes« Reformlager bezieht. Als solches wird – aktuell im Vorfeld der kommenden Bundestagswahl – eine mögliche Koalition aus SPD, Grünen und Linken in Stellung gebracht, gesellschaftlich ergänzt durch Gewerkschaften, Sozialverbände, Teile der Kirchen, Verbraucher-, Umwelt- und Mieterschutzorganisation usw.
Würde man die Zustimmungsraten zu einigen Anliegen dieser Parteien und Verbände einfach addieren, käme man in der Tat auf eine ziemlich große gesellschaftliche Mehrheit für eine fortschrittliche Reformpolitik. Leider funktioniert das aber nicht, weil die jeweils angestrebten politischen Ziele für sich genommen in großen Teilen recht vernünftig erscheinen mögen, mitunter aber nicht miteinander vereinbar sind. Ein Beispiel: Vor allem die Grünen und Umweltverbände fordern einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Förderung und Verstromung von Kohle sowie mittelfristig ein Verbot von Autos, die mit fossilen Brennstoffen wie Benzin und Diesel betrieben werden. Ihr einleuchten Argument lautet, dass andernfalls die Klimaschutzziele ebenso wenig erreicht werden können, wie die Einhaltung der Grenzwerte für Schadstoffbelastungen, zum Beispiel durch Ruß und Stickoxide. Damit beißen sie aber nicht nur bei der CDU/CSU, sondern auch bei der SPD, großen Teilen der Gewerkschaften und was die Kohle betrifft auch bei Teilen der Linken (besonders in Brandenburg) auf Granit, da diese den Verlust von Arbeitsplätzen und große strukturelle Verwerfungen in einigen Regionen befürchten. Und was Autos betrifft, gibt es auch bei den Grünen inzwischen einen einflussreichen Flügel, der die Konzerne – besonders im »grün-schwarz«-regierten Baden-Württemberg – nicht übermäßig erschrecken will.
Andere Frontverläufe gibt es bei der »Schuldenbremse« und der damit verbundenen restriktiven Haushaltspolitik. Während Linke, Sozialverbände und große Teile der Gewerkschaften dieses neoliberale Dogma in Frage stellen und besagte Bremse lockern beziehungsweise abschaffen wollen, stehen Grüne und SPD zur Austeritätspolitik. Ohnehin ist schwer verständlich, wie man ausgerechnet die SPD als Bestandteil einer möglichen »linken Reformmehrheit« jenseits der CDU/CSU definieren kann. Was auf kommunaler und Landesebene zumindest denkbar erscheint, ist auf Bundesebene wohl schier unmöglich. Die Partei steht nach wie vor nicht nur zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr, sondern auch zu den Hartz-Gesetzen und zur tendenziellen Absenkung der gesetzlichen Renten. Ihre steuerpolitischen Vorstellungen sind weit von einer wirklichen Umverteilung von oben nach unten entfernt, was aber eine der wichtigsten Voraussetzungen für dringend notwendige Sozialreformen wäre. Und was umwelt- und klimapolitische Vorgaben betrifft, hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erst Mitte November 2016 anschaulich demonstriert, wofür die SPD im Kern steht. Ein ohnehin recht zahmer Entwurf seiner Parteifreundin und Umweltministerin Barbara Hendricks für ein deutschen Positionspapier zur Klimakonferenz in Marrakesch wurde von Gabriel auf Druck der Industrie und anderer Lobbyisten mehr oder weniger komplett kassiert. Es enthält jetzt keinerlei konkrete Vorgaben für Kohleausstieg, Verbrennungsmotoren und die Reduzierung von Umweltbelastungen durch die Landwirtschaft mehr.
Auch die Gewerkschaften sind nicht so ohne Weiteres in Gänze einem »fortschrittlichen Reformlager« zuzuordnen. Besonders im großindustriellen Bereich werden oftmals die Geschäftsinteressen der jeweiligen Konzerne vertreten, weil man sich im Gegenzug auskömmliche Löhne und sichere Arbeitsplätze verspricht. So unter stützte die IG Metall die Idee, deutsche Kampfdrohnen zu entwickeln und tritt auch keineswegs für ein Verbot von Rüstungsexporten ein.-Lobbyisten der Chemieindustrie und der IG BCE agieren Hand in Hand, wenn es um die Zukunft er Braunkohle, die Verhinderung höherer Umweltstandards und die Zulassung bedenklicher Stoffe und Verfahren geht. Auch die IG BAU hat die Interessen ihrer Mitglieder fest im Blick und fordert große Steuergeschenke für private Investoren im Wohnungsbau. Und den für die Wohnungswirtschaft zuständigen Fachbereich der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wird man wohl kaum als Speerspitze von Bestrebungen erleben, das Mietrecht dahingehend zu reformieren, dass die Profite von Immobiliengesellschaften ernsthaft geschmälert werden. Auch bei Fragen des Verbraucherschutzes – einem traditionellen Steckenpferd der Grünen – findet man Gewerkschaften nicht selten auf der »anderen Seite«. Umweltverbände und mit ihnen auch große Teile der grünen Klientel scheren sich wiederum wenig bis gar nicht um soziale Belange.
Während die SPD besonders in Großstädten und Ballungsräumen nach Jahren des wohnungsbaupolitischen Nichttuns nunmehr endlich auf forcierten Neubau und Nachverdichtung auch in innerstädtischen Bereichen setzt, wollen unheilige Allianzen aus grünen Umweltschützern und linken Bewahrern »gewachsener Strukturen« beziehungsweise »Freiräume« eben genau das verhindern. Die Zuordnung der Grünen zu einem »fortschrittlichen Reformlager« erscheint ohnehin kaum schlüssig. Und das nicht nur, weil die Partei explizit offen für Koalitionen mit der CDU und neuerdings auch mit der FDP ist. Entsprechend »biegsam« hat sie sich auch in entsprechenden Bündnissen gezeigt und beispielsweise in Hessen und Hamburg ihre vormals nahezu identitätsstiftenden Kämpfe gegen den weiteren Ausbau des Frankfurter Flughafens beziehungsweise die weitere Elbvertiefung und ein neues Kohlekraftwerk in Hamburg ad acta gelegt. In der Steuerpolitik agieren die Grünen sehr vorsichtig, der stärker werdende »Kretschmann-Flügel« und die »Realos« um Cem Özdemir und Kathrin-Göring-Eckardt in der Parteispitze stehen in Sorge um ihr bürgerliches Klientel zum Beispiel der Reani mierung der Vermögenssteuer und höheren Spitzensteuersätzen für den gehobenen Mittelstand eher reserviert gegenüber. Entsprechend absurd war ihr Beschluss im November 2016 auf dem Programmparteitag zur nächsten Bundestagswahl. Dort heißt es, man wolle der sozialen Spaltung »mit einer verfassungsfesten, ergiebigen und umsetzbaren Vermögenssteuer für Superreiche entgegenwirken«. Weitere Details, etwa zur Höhe der Steuer oder wer denn zur Kategorie »superreich« gehört, legt der Beschluss jedoch nicht fest. Dafür gibt es gleich eine Einschränkung der möglichen Vermögensbesteuerung: »Selbstverständlich legen wir dabei besonderen Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Innovationskraft von Unternehmen«. Schöner hätte es die CSU bei der einige Wochen zuvor vorerst beendeten Debatte um die Neuordnung der Erbschaftssteuer auch nicht formulieren können. Da kann es auch nicht verwundern, dass eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Top-Verdiener bei den Grünen – anders als im vorangegangenen Wahlkampf – überhaupt nicht mehr vorkommt.
Interessant wird es auch bei den in sozialen Fragen mitunter recht engagierten Kirchen. Mit denen ist spätestens dann nicht mehr gut Kirschen essen, wenn es um ihre vordemokratischen Privilegien bei der Beteuerung ihrer Besitztümer, der Vereinnahmung der Kirchensteuer oder das von staatlichen Gesetzen weitgehend entkoppelte Arbeitsrecht geht. Sehr schmallippig werden – aus naheliegenden Gründen – viele Protagonisten des virtuellen »fortschrittlichen Reformlagers« auch, wenn es um das Beamtenrecht mit seinen zahlreichen Privilegien geht. Zwar scheint die Forderung nach einer Bürgerversicherung für die medizinische Versorgung und die Rente einigermaßen Konsens zu sein, die teilweise recht üppigen Sonderversorgungssysteme für Beamte, Abgeordnete und andere privilegierte Gruppen sollen aber nicht angetastet wer den. Natürlich wären für den Fall einer »rot-rot-grünen« Regierungsmehrheit in vielen Fragen Kompromisse denkbar – in einigen aber nicht.
Aber auch das »konservativ-neoliberale Reformlager« ist alles andere als homogen. So weist die FDD in Bürgerrechts- und postmateriellen Angelegenheiten einige Schnittmengen mit Teilen des anderen Lagers auf. Bei der Telefonüberwachung, der vollständigen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (inklusive Adoptionsrecht), der Freigabe von Cannabis oder dem Ausbau der direkten Demokratie stehen die Liberalen den Grünen und den Linken wesentlich näher als der CDU/CSU. Und während sich die Parteien der Großen Koalition, Unternehmerverbände und der DGB einig waren, als es um die Beschneidung der Rechte von Sparten- und Berufsgewerkschaften durch das »Tarifeinheitsgesetz« ging, stand die FDP zusammen mit den Linken auf der Seite derjenigen, die dieses-Gesetz vehement ablehnten.
Selbst mit den großen Unternehmerverbänden ist das nicht so ganz eindeutig. Sie vertreten in der Bildungs-, Einwanderungs- und Integrationspolitik teilweise deutliche vernünftigere Positionen als große Teile der SPD und der CDU/CSU. Auch mit dem »Leitkultur«-Gedöns, welches in der CDU/ CSU wieder eine zunehmende Rolle spielt, haben Wirtschaftsverbände wenig am Hut.
Ob der Wahlkampf durch den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz noch einmal spannend wird, ist ungewiss. Derzeit sieht es so aus, als sei der „Schulz-Effekt“ schon wiede verpufft. Für die Festigung oder gar Mehrheitsfähigkeit eines „fortschrittlichen Reformlagers“ spielt das allerdings keine Rolle. Weil dieses Lager schlicht und ergreifend nicht existiert.