Joachim Kühn: „Spielen bis zum Umfallen“

Dieser Text erschien am 21.März im „Neuen Deutschland“ und ist im Internet nur für Abonnenten einsehbar

Joachim Kühn muss niemandem mehr etwas beweisen. 1966 verließ der damals 22jährige Ausnahmepianist die DDR, die ihm musikalisch und lebenskulturell zu eng geworden war. Bald wurde er zu einer festen Größe im europäischen Jazz, spielte in unzähligen Formationen und war begehrter Gast auf den großen Festivals auch in den USA, wo sein Bruder lebt, der Klarinettist Rolf Kühn. Später zog er nach Paris und gründete mit dem Bassisten Jean-Francois Jenny-Clark und dem Schlagzeuger Daniel Humair ein besonders für das freie Spiel bahnbrechendes Trio.

© ACT Music

Doch Kühn ist keiner für die Schubladen. Zum Selbstzweck degenerierter Free-Jazz ist ihm ebenso suspekt wie die Anbiederung an irgendwelche Trends. Groove und Spirit sind seine Essenzen, das Ausloten neuer harmonischer Räume jenseits von Dur und Moll seine Mission. Und die führt ihn in immer neue Gefilde; Mal nach Leipzig, wo er mit den Thomanern über Bach-Motetten improvisierte, mal in die nordafrikanische Wüste, wo er mit Berber-Musikern jammte und daraus später ein Projekt für eine Big Band formte, um nur einige Beispiele zu nennen.

Seit einiger Zeit lebt Kühn in einer recht abgeschiedenen Finca auf Ibiza und wird immer weiter spielen, „bis zum Umfallen“, wie er im Gespräch betont. Ideen für neue Projekte suche er nicht, denn das sei Zeitverschwendung. „Ich laufe am Strand lang, und die Ideen kommen zu mir. Das ist meine Inspiration; sobald die Füße mit dem Wasser in Berührung kommen, dann klingelt’s da oben. Wie in Trance.“

Offenbar hat es wieder mal geklingelt. Kühn hat in seiner umfangreichen Tonträgersammlung ein paar Perlen gefunden, deren „Spirit“ ihn zu eigenen Interpretionen animierte. Aus in der Urfassung der „Doors“ apokalytisch anmutenden Stücken wie „The End“ und „Riders on the Storm“ formt er elegisch-fröhliche Miniaturen, aus „Sleep on it“ von „High Stand Patrol“ wird ein angedeuteter Reggae-Groove mit bluesigen Improviationen, und selbst dem seit Jahrzehnten totgespielten Evergreen „Summertime“ von George Gershwin entlockt er ein wahres Füllhorn überraschender harmonischer Facetten. Auch Weggefährten vergangener Jahrzehnte wie dem polnischen Jazzvisionör und Filmmusikkomponisten Krzysztof Komeda wird respektvoll, aber auch voller Selbstbewusstsein Referenz erwiesen. Dazu kommen kleine, sprühende Miniaturen aus eigener Feder wie das swingende „Because of Mouloud“ oder die Ballade „Intim“. Und als Schlusspunkt schließlich der von Gil Evans komponierte „Blues for Pablo (Picasso)“, ein Stück, das eigentlich nur auf fünf Tönen basiert, aber, so Kühn, „ einen ganzen musikalischen Kosmus eröffnet“, den er in knapp neun Minuten in einem wilden pianistischen Parforceritt durchschreitet.

Es ist der leichtfüßigste, fröhlichste, groovigste und rockigste Kühn seit vielen Jahren. Mit Chris Jennings (bass) und Eric Schaefer (drums) hat er zudem kongeniale Partner gefunden. Schäfer , seit Jahren auch im Trio des neuen deutschen Jazz-Superstars Michael Wollny tätig, wechselt bruchlos zwischen harten Beats und vertrackter Polyrhythmik und schließt mitunter mitten im Stück mit einer ganz kleinen Akzentverschiebung auf der Snare-Drum eine neue musikalische Tür auf. Jennings steht dem in nichts nach und bewegt sich auf dem Kontrabass traumwandlerisch stilsicher zwischen fast peitschenden Grundtönen und singenden harmonischen Erweiterungen; alles immer genau auf den Punkt.

Mit „Beauty&Truth“ präsentiert Kühn jedenfalls eine CD mit hochenergetischer Gute-Laune-Musik. Ist das Jazz oder manchmal auch Rock? Oder vielleicht Jazzrock? Solch überflüssige Fragen stellt sich der mittlerweile 72jährige schon lange nicht mehr. Denn alles ist eigentlich ganz einfach: „Es gibt Musik, die hat Groove und Spirit und es gibt welche, die das nicht hat. Mit irgendwelchen Einordnungen kann ich nichts anfangen“.

Möge Joachim Kühn noch oft an seinem Strand entlang laufen, um dort neue Inspirationen zu finden, die er dann mit anderen Musikern und seinen Hörern teilen kann. Bis zum umfallen.

Joachim Kühn New Trio

„Beauty&Trust“

erschienen bei ACT-Music, März 2016

 

 

War da was am Sonntag? Ja, die ProWein.

Als am Sonntag um ca 17,45 Uhr Millionen Deutsche mehr oder weniger fiebrig auf die ersten Prognosen zu den Landtagswahlen warteten, stieß ich auf der Düsseldorfer ProWein-Messe ganz entspannt mit der fränkischen Weinkönigin an (mit einem feinherben Traminer). Als so gegen 20,30 die politische Klasse in allen TV-Sendern ihre Sorgenfalten zur Schau stellte, verspeiste ich im „El Pescadore“ in entspannter Runde Muscheln, ein paar Garnelen und gebratenen Fisch. Und auch am Morgen danach galt mein Interesse eher dem gebietsypischen Zweigelt aus dem Carnumtum-Gebiet und den edelsüßen Weinen von Heidi Schröck, als dem Gejammer über „politische Erdrutsche“ und schwierige Regierungsbildungen. Und als am Montagabend das Talkshow- und Interview-Gewitter prasselte, nutzte ich den ICE von Düsseldorf nach Berlin als temporäre Schlafstätte.

Entspannte Einstimmung auf die Wahlergebnisse mit der fränkischen Weinkönigin Kristin Langmann

Hab ich was verpasst? Wohl kaum. Die AfD hat die zu erwartenden Ergebnisse erzielt (das gilt für mich auch für Sachsen-Anhalt), parallel dazu gab es regional unterschiedliche Einbrüche der „Altparteien“. Rechtspopulismus, Rassismus und allgemeine Unzufriedenheit haben eine starke Plattform gefunden, das zeigt auch die erhebliche Mobilisierung bisheriger Nichtwähler. Ja, es gibt die Gefahr des rasanten Vormarschs einer antimodernen, antidemokratischen und in großen Teilen rassistischem Bewegung. Es gibt ferner die begründete Hoffnung, dass der enorm hohe Anteil von Hohlbirnen und Glücksrittern unter den Neuparlamentariern der AfD relativ schnell zur Selbstdemontage dieser Partei führt, was allerdings nicht das Ende der o.g Bewegung bedeuten würde.

Dem muss dringend etwas entgegengesetzt werden. Und zwar kein „Schulterschluss der Demokraten“ nach üblichem Muster, sondern ein Politikwechsel, der einen Bruch mit der neoliberalen Verarmungs- und Ausgrenzungspolitik bedeutet und die soziale Infrastruktur in den Mittelpunkt stellt, von der frühkindlichen Bildung über die Wohnungsversorgung bis hin zur Vermeidung von Altersarmut immer größerer Teile der Bevölkerung. Es braucht mehr Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit, statt Austerität und „schwarzen Nullen“. Und es braucht unmissverständlich klare Kante gegen Rassismus. Wenn dies auf den Weg kommt, dann hätte dieser Wahlsonntag durchaus etwas etwas Positives gehabt. Wenn nicht, dann könnte es allerdings ziemlich finster werden.

Ich werde heute keine Zeitungen lesen, sondern meine Unterlagen und Notizen von der ProWein sortieren um entsprechende Veröffentlichungen vorzubereiten. Bald beginnt die Spargelsaison, daher werde mich mich wieder intensiv um leichte, trockene Silvaner bemühen, aber auch um Rotweine mit „kühler“ Stilistik (natürlich nicht zum Spargel). Mehr oder weniger tiefschürfende Hervorbringungen zu den „Schockwahlen“ wird es in den nächsten Tagen schließlich genug geben.

 

 

 

 

 

 

Jazz goes Folkrock – warum nicht

Im Dezember 2012 wurde die Veranstaltungsreihe „Jazz at Berlin Philharmonic“ aus der Taufe gehoben und hat sich seitdem einen festen Platz in der Konzertlandschaft erobert. Das ist nicht zuletzt das Verdienst des Kurators Siggi Loch, der auch als Impressario des Jazzlabels ACT seit mehr als zwei Jahrzehnten beweist, wie spannend und lebendig dieses Genre ist. Die alte, fruchtlose Debatte über afro-amerikanische und andere Jazz-Reinheitsgebote wird bei ACT und im Umfeld des Labels jedenfalls zu Recht NICHT geführt, denn Jazz ist schlicht Spirit und Groove.

Nichts für Jazzpuristen, aber es war ein fröhliches Spektakel am Dienstag in der Philharmonie.
© ACT

Beides hatten die sieben Musiker, die am Dienstag im Kammermusiksaal der Philharmonie ihre „Celtic Roots“ zelebrierten, jedenfalls reichlich. Obwohl Kurator Loch bei diesem Projekt hart an die Genregrenze oder vielleicht auch darüber hinaus gegangen ist. Geboten wurden in erster Linie behutsame Arrangements traditioneller Stücke aus der irischen, schottischen und skandinavischen Folk-Tradition, dazu noch einige Songs aus der New Yorker „Urban Blues“ – Abteilung. Das ließ relativ wenig Spielraum für Improvisationen, zumal das Korsett einfacher pentatonischer Skalen als Bindeglied zwischen nordisch-neokeltischer Folkmusic und Blues selten gesprengt wurde.

Dennoch hatte die siebenköpfige „Celtic Roots“-Formation, die erst vor wenigen Tagen erstmals gemeinsam probte, jede Menge Schmankerl zu bieten. Der schottische Multiinstrumentalist Fraser Fifield brannte mit seiner Smallpipe (eine Art Dudelsack ohne Mundblasebalg) diverse Feuerwerke ab, Bandleader Knut Reiersrud (Gitarre), Ale Möller (Mandola u.a.) sowie Percussionist und Bassist Olle Linder sorgten für entsprechenden Dampf in der Folkrock-Hütte. Dazu noch knackige Fiedeln und Flöten, mal ein Saxophon und eine Trompete und vor allem die wunderbar klare und gradlinige Altstimme der norwegischen Sängerin Tuva Syvertsen sowie die Blueseinlagen von Eric Bibb – das ging ab und manchmal unter die Haut!

Für Neofolk- und Folkrockfreunde sicherlich ein ungetrübtes Vergnügen voller Déja-Vu-Erlebnisse. Denn man denkt unwillkürlich an Formationen wie Bothy Band, Planxty, Boys of the Lough, De Dannan, Tannahill Weavers oder die Moving Hearts. Für die klassische „Jazz-Cummunity“ aber wohl eher nicht der Stoff, den sie erwartet hatte. Auf alle Fälle aber ein singuläres Live-Erbenis, denn das Konzept der Reihe „Jazz at Berlin Philharmonic“ beinhaltet, die jeweilige Idee mit einer einmaligen Workhop-Formation umzusetzen, deren Mitspieler anschließend wieder in alle Winde zerstieben. Das Konzert wurde aufgezeichnet. Ob es mal als CD veröffentlicht oder im Rundfunk ausgestrahlt wird, ist derzeit noch offen.

 Eine Schlussbemerkung sei erlaubt. Vor gut zwei Wochen gab es in der Kölner Philharmonie ein Konzert, bei dem der iranische Solist zunächst angepöbelt wurde, als er ein Stück auf Englisch anmoderierte. Wenig später erzwangen einige Zuschauer den Abbruch eines Werkes von Steve Reich durch lauten Johlen, Klatschen und Pfeifen (s. Artikel bei cicero). Auch Bandleader Knut Reiersrud moderierte auf Englisch und einige Stücke werden wohl nicht allen gefallen haben. Aber niemand randalierte und pöbelte. Schlimm, dass man das heutzutage erwähnenswert findet.

Hessen-Wahl: Kein Grund zur Panik, aber….

Nein, die Ergebnisse der hessischen Kommunalwahlen haben mich weder überrascht, noch schockiert. Es war erwartbar und der Trend wird sich zunächst fortsetzen, bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt könnten es über 20 Prozent werden, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auf alle Fälle über zehn Prozent.

Unabhängig vom „braunen Osten“ gab und gibt es auch in der Bundesrepublik einen rassistischen bis faschistischen Bodensatz in der Gesellschaft. Der tritt mal lauter, mal leiser in Erscheinung und angesichts der so genannten Flüchtlingskrise mal wieder besonders laut. Mit der AfD hat diese Geisteshaltung eine erfolgreiche Plattform gefunden, die durch die aktuelle Flüchtlingspolitik enorm an Schwung gewonnen hat. Dazu kommt ein nur allzu berechtigtes tiefes Misstrauen gegen die „etablierten Parteien“.

In meinem Bekannten- oder gar Freundeskreis gibt es keine AfD-Unterstützer. Doch es ist davon auszugehen, dass ich tagtäglich welchen begegne. Doch wir suhlen uns in unserer moralischen Überlegenheit und unserer Intellektualität und haben uns in unseren weltanschaulichen und soziokulturullen Nischen wohlig eingerichtet. Gerade in Berlin hat man in den beliebten Altstadtkiezen wenig mit dem AfD- und Neonazi-Millieu zu tun, Hellersdorf und Marzahn besucht man schließlich nur im äußersten Notfall.

Doch „wir“ – und damit meine ich ein ziemlich großen Spektrum von mehr oder weniger radikal links, „grün-alternativ“ oder aufrecht sozialdemokratisch eingestellten Menschen bis hin zu humanistisch gesinnten Flüchtlingshelfern – haben den Abgehängten, Frustrierten, Ängstlichen und Ohnmächtigen außer Allgemeinplätzen wenig bis nichts anzubieten. Wir reden lieber über sie als mit ihnen.

Sicherlich: Es gibt einen harten Kern gefestigter völkischer Rassisten und Neonazis, vom intellektuellen bis zum praktizierenden Brandstifter. Und es gibt – nicht nur aber besonders – in einigen Städten und Gemeinden im Osten entsprechend gefestigte soziokulturelle Strukturen, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Mit Brandstiftern und faschistischen Marktschreiern kann und sollte man nicht diskutieren, sondern sie nach Möglichkeit ins Gefängnis stecken oder wenigstens gesellschaftlich ächten, also auch in Vereinen und Verbänden. Doch der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der AfD sollte nun endlich die Erkenntnis reifen lassen, dass das bei weitem nicht ausreicht, zumal es kaum passiert.Wir müssen endlich raus aus unseren Nischen.

Die Antwort der großen etablierten Parteien (außer der LINKEN) ist ebenso einfach wie falsch. Sie wetteifern darum, den Rassisten mit immer neuen Verschärfungen des Asylrechts und einer möglichst effektiven Abschottungspolitik entgegen zu kommen – und stärken damit deren vermeintliche „Glaubwürdigkeit“ in großen Teilen der Gesellschaft. Wer einen miesen Deal mit dem autokratischen Kurdenschlächter Erdogan zum Königsweg der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik erklärt, besorgt nicht nur das Geschäft der AfD, sondern auch das der „besorgten Bürger“ von Clausnitz und Bautzen und der Rechtsterroristen in Nauen (Brandenburg). Auch in der Debatte, wieviel „uns“ die Flüchtlinge nun wirklich kosten oder ob „uns“ die Zuwanderung vielleicht sogar nützt, kann man gegen Rechtspopulisten nur verlieren.

Es ist gesellschaftlich in Deutschland einiges aus dem Ruder gelaufen und zwar schon lange vor der „Flüchtlingskrise“. Kinder- und wachsende Altersarmut, Hartz-IV-Elend, präkare Arbeitsverhältnisse, Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und ein teilweise marodes Bildungssystem wurden von den Herrschenden lange Zeit achselzuckend als Kollateralschäden einer im Prinzip erfolgreichen (neoliberalen) „Reformpolitik“ abgetan. Den Linken und Humanisten ist es nicht mal ansatzweise gelungen, eine wirkliche Massenbewegung dagegen auf den Weg zu bringen. Nicht nur, aber auch, weil einem großen Teil des „fortschrittlichen Bürgertums“ soziale Fragen weitgehend am Allerwertesten vorbei gehen. Und so kommt es halt zu dem bitteren politischen Treppenwitz, dass sich ausgerechnet eine rechte und im Kern neoliberale Partei wie die AfD erfolgreich als Sprachrohr „der da unten“ gegen „die da oben“ positionieren kann und dabei auch militanten völkischen Rassismus hoffähig macht.

Noch ist es nicht zu spät. Gemessen an der Wahlbeteiligung haben lediglich sechs Prozent der Hessen AfD oder noch Schlimmeres gewählt. Bei den kommenden Landtagswahlen werden es wohl mehr werden und möglicherweise für gewisse Verwerfungen im Parteiengeflecht sorgen. Das könnte auch so eine Art heilsamer Schock sein. Wirklich gefährlich wird es allerdings, wenn es uns nicht gelingt, die Frage der sozialen Verfasstheit dieser Republik wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Und zwar schnell!

 

Ich war Händel: Kleine Flucht mit großem Chor

Manchmal liebe ich Berlin. Z.B. wenn ich wieder mal realisiere, dass diese Stadt eine Philharmonie nebst Kammermusiksaal hat, die ich in 15 Minuten mit dem Fahrrad erreichen kann. Und dass dort nicht nur regelmäßig die Berliner Philharmoniker spielen, sondern auch die mit ihnen verbundene Akademie für Alte Musik, eines der besten Orchester für diese Sparte.

Gestern wurde Händel gegeben; eine Trauermusik für die 1737 verstorbene englische Königin Caroline und eine von Händels zahlreichen Oden anlässlich irgendwelcher Namenstage.

Das war mir alles relativ egal, ohnehin tendiere ich was alte Musik betrifft eher zu J.S. Bach als zu G.F. Händel. Doch die Interpretenliste machte einen Konzertbesuch unumgänglich, da das „Collegium Vocale Gent“(hier mit einem Bach-Choral) weltweit zu den – da lege ich mich fest – drei besten Chören für Alte Musik gehört. Zweimal hatte ich die Belgier bisher live erlebt, und beide Male klebte ich nach den Konzerten in der Leipziger Thomaskirche gleichermaßen beglückt und benommen auf meiner harten Kirchenbank.

Im Kammermusiksaal ist die Atmosphäre etwas kühler und distanzierter als in einer Kirche. Doch der Strahlkraft des in relativ kleiner Besetzung (24) angetretenen Chores tat das keinen Abbruch. Schwebend und vollkommen transparent bewegt sich das Collegium durch dir traurig-deklamatorischen Chorsätze, fast schwerelos der Übergang in hymnische, wuchtige Dur-Kontrapunktik zum Preisen der großen Taten der Queen, die wohl eine Art Lady Di des englischen Spätbarock gewesen sein muss. Dazu das äußerst geschmeidige und detailversessene Orchester, dem aber diesmal der allerletzte Glanz und das Feuer fehlten, den beispielsweise die Kollegen vom Freiburger Barockorchester des Öfteren versprühen.

Händel hat in seiner Heimatstadt Halle zu Recht ein Denkmal
(c) dnaw/Wikipedia

Nach der Pause vermochte auch Händels in Oratorienform verfasste Cäcilienode – ein deutlich leichtfüßigerer Stoff – zu gefallen, zumal das Orchester aus der leichten Lethargie der Trauermusik erwacht zu sein schien. Erneut begeisternde Chorsätze voller Brillanz, Kraft und Dynamik. Wenn da nicht die manchmal regelrecht schreckliche Sopranistin Klara Ek gewesen wäre, die mit für dieses Genre übertriebenen, manchmal gar verunglückten Koloraturen für ein mitunter schmerzliches akkustisches Missempfinden sorgte. Da bekommt man dann Sehnsucht nach großen Händel-Interpretinnen wie Emma Kirby oder Nuria Rial. Dennoch: Vor allem wegen des Chores ein großer Konzertabend, den das Publikum mit minutenlangen Ovationen dankte.

Auch rund 600 Kilometer entfernt gab es an diesem Abend ein Konzert in einer Philharmonie, und zwar in Köln. Das renommierte Ensemble „Concerto Köln“ bot ein Programm mit Orchesterwerken von J.S. Bach, seinem Sohn C.P.E. Bach und dazwischen kleineren Werken einiger moderner Komponisten. Solist war der iranische Cembalist Mahan Esfahani. Schon bei seiner englischsprachigen Anmoderation für das sicherlich gewöhnungsbedürftige Werk „Piano Phase“ des Minimal-Music-Pioniers Steve Reich wurde der Musiker aus dem Publikum lautstark angepöbelt („Sprechen Sie gefälligst Deutsch“) Die Aufführung des Stückes selbst musste nach wenigen Minuten abgebrochen werden, erzwungen durch lautstark johlende und pfeifende Besucher. Es hat etwas Beunruhigendes, dass die Verrohung großer Teile des Bürgertums jetzt auch in Konzertsälen angekommen ist, als Mob in Abendgarderobe.

Doch das soll kein Wasser im großen Wein sein, mit dem ich das Erlebnis des Collegium Vocale Gent vergleichen möchte.Und vielleicht ist Berlin ja wirklich anders als Köln.

Moabit 2016: Zwischen Rohmilchkäse und Regionalliga

An Entertainment mangelt es in Moabit nicht. Der „langen Nacht des Weins“ am Freitag in der halbgentrifizierten Markthalle folgten am Sonnabend und Sonntag die „Berliner Käsetage“ im Rahmen der Reihe „eat!berlin“. Im Vergleich zu der übervollen Weinsause am Freitag stellte sich das Käse-Event als vergleichsweise entspannte Veranstaltung heraus. Wer nicht nur kam, um sich umdudelt von ein bisschen Soft-Jazz an den Brunch-Buffets die Plauze zu füllen und dabei an Sektkelchen zu nippen, konnte sogar richtig interessanten Käse probieren; leckeres, gut gereiftes Zeug u.a. aus Österreich, England und Italien. Dann noch eine außergewöhnlich gute Weißwurst und ein kräftiger Riesling brut-Sekt vom Weingut Ernst Eifel aus Trittenheim (Mosel) und der sonnige Sonntag war würdig eröffnet. Ja, die altehrwürdige Arminiushalle ist mittlerweile auch eine angesagte Event-Location. Manche bedauern dies und erinnern wehmütig an die „guten alten“ Markthallenzeiten. Doch die sind definitiv vorbei, weil der Kunde es so wollte. Und solange man in der Halle zu den normalen Öffnungszeiten neben französischer Gourmet-Küche und einigen recht guten Weinen auch noch ne Schrippe für eine paar Cent oder ein Kilo Mufflonrücken für zehn Euro erhält, funktioniert der Spagat zwischen Einkauf und Rummel so einigermaßen.

Moabter Eventkultur am Sonntag: Käsefest in der Markthalle…

Doch nach so viel kleinbürgerlicher Genuss-Noblesse steht mir dann manchmal der Sinn nach eher proletarischen Vergnügungen. Also nach einer Verdauungsrunde durch die Rehberge ab ins Poststadion, wo der multikulterelle örtliche Fußball-Spitzenklub BAK 07 sich anschickte, mit einem Sieg über die U23 – Mannschaft von Hertha BSC den 2. Tabellenplatz in der Regionalliga Nordost zu erklimmen. Hier spielt kein Jazz-Trio sondern der Stadion-Sprecher heizt die Stimmung an. Hier klirren keine Sektkelche, sondern verliert „Berliner Pilsner“ in den Plastebechern allmählich seinen Schaum. Hier wird nicht gehobene Casual-Wear zur Schau getragen, sondern sich mit robuster Freizeitkleidung gegen die Kälte im zugigen Poststadion gewappnet.

Bierstand im Poststadion

Der BAK hat wieder mal versagt. Nach der frühen Führung wurde nicht entschlossen nachgesetzt sondern öder Verwaltungsfußball gespielt. Auch in der 2 Halbzeit spielte die in der Winterpause beträchtlich aufgerüstete Mannschaft nur in den ersten zehn Minuten einigermaßen druckvoll. Die Hertha-Bubis nutzen anschließend zwei erschreckende Abwehrpannen des BAK, um das Spiel zwischen der 60. und 70. Minute zu drehen. Bei ihrer Schlussoffensive deuteten die Moabiter an, was sie können, doch es blieb bei der unnötigen 1:2 Niederlage, die wohl auch das endgültige Ende der ohnehin nur noch sehr verhaltenen Aufstiegsträume bedeutet. Entsprechend bedient war BAK-Trainer Steffen Baumgart in der Pressekonferenz nach dem Spiel

..und der frustrierte BAK-Trainer nach der Heimniederlage

Auf der Fahrt nach Hause ging mir noch durch den Kopf, dass ich vermutlich der einzige Moabiter und überhaupt der einzige Mensch bin, der am heutigen Sonntag sowohl den Käse-Event in der halbgentrifizierten Markthalle als auch das Spiel im leicht angeranzten, aber charmanten Poststadion besucht hat. Jedenfalls ein netter Sonntag.

Ein Süßwein der rockt

Manchmal ist facebook doch zu was Nutze. Während ich mich gerade mit mehr oder weniger sinnhaften Wohnungsbaubündnissen des Berliner Senats beschäftigte, erklang das vertraute „Klong“, hinter dem sich ein Weintipp verbarg. Und zwar nicht von einem der vielen Satzbaustein-Poser, die ihren gealterten 50-Euro-plus-Bouteillen Aromen von Reifenabrieb und nassem Rüdenfell attestieren, sondern von einem Weinfreund, der eine beachtliche edelsüße Auslese für schlappe sechs Euro bei einer bekannten Lifestyle-Gemischtwaren-Kette entdeckt und später auch verkostet hat.

Solche Tipps bekommt man nicht jeden Tag. Also rauf auf’s Fahrrad und schnell zum Berliner Hauptbahnhof gefahren, wo besagte Kette eine Dependance unterhält. Mit 2 FlaschenAngerhof Auslese 2013″ vom Weingut Tschida aus Illmitz (Burgenland) in der Tasche noch einen kleinen Zwischenstopp bei meiner halbgentrifizierten Moabiter Markthalle eingelegt, um eine bisschen Leberterrine zu erstehen. Zusammen mit einer Eigenkreation (Pudding aus Kokosmilch, Joghurt und Banane – alles pürieren, mit Agar-Agar erhitzen und kalt stellen) sollte dies die Bewährungsprobe für die Auslese darstellen – und mir nach lauter „Wohnungsbaubündnissen“ eine erquicklioche kleine Zwischenmahlzeit bescheren.

Geschmackstrio vom Feinsten: Edelsüße Auslese vom Angerhof, Leberterrine und Kokosmilch-Bananen-Pudding

Was soll ich sagen: Das Zeug rockt einfach. Viel reife Frucht in der Nase, besonders Mandarine und Orangenschale. Kühler Antrunk mit feiner Säure und dann kräftig Bratapfel, weiterhin Mandarine und ein wenig Honig. Langer Nachhall und wie fast zu erwarten ein kongenialer Begleiter sowohl zur Terrine als auch zum Pudding.

Im Netz wird der Wein zwischen acht und zwölf Euro angeboten. Warum Strauss Innovation ihn für sechs Euro verramscht, weiß ich nicht. Dafür weiß ich, dass ich mich mit diesem Wein ein wenig bevorraten werde. Außerdem ist es einfach mal wieder schön, was zu schreiben, wo die Begriffe „Flüchtling“ und „Sachsen“ nicht vorkommen.

 

Zwischen Faschismus, Kräuterseitlingen und großer Musik

Ich rekapituliere mal die letzten Tage.

- In Clausnitz (Sachsen, wo sonst) umzingelt ein entmenschter, 100köpfiger Mob einen Bus mit 15 Flüchtlingen, die in dem Ort untergebracht werden sollen. Verängstigte Businsassen werden von der Polizei gewaltsam heraus gezerrt, der Leiter der Polizeidirektion rechtfertigt dies und kündigt zudem an, gegen Flüchtlinge wegen Widerstandes zu ermitteln.

- In Bautzen (Sachsen, wo sonst) klatschen gröhlende Erwachsene und Kinder Beifall, als ein Haus, in dem Flüchtlinge untergebracht werden sollten, nach einer Brandstiftung in Flammen aufgeht. Einige versuchen, die Löscharbeiten massiv zu behindern.

- In Berlin blockiert die CDU den schnellen Bau von dauerhaften Unterkünften für bis zu 15.000 Flüchtlinge.

-In Brüssel wurde vereinbart, dass Zuwanderern aus anderen EU-Ländern bis zu vier Jahren Sozialleistungen verweigert werden können. Kein Ergebnis gab es dagegen bei der Frage der Verteilung der in Griechenland ankommenden und registrierten Flüchtlinge. Man setzt darauf, dass der durchgeknallte Kurdenschlächter Erdogan es irgendwie schaffen wird, Flüchtlinge weitgehend an der Überfahrt nach Griechenland zu hindern. Dafür soll er viel Geld bekommen, sowie die stillschweigende Duldung des Terrors gegen die Kurden in der Türkei, Syrien und dem Irak.

- In den Umfragen zu den drei Landtagswahlen im März klettert die AfD von einem Rekordwert zum nächsten. Der Wettlauf von CDU/CSU, SPD und Grünen um eine möglichst AfD-affine Flüchtlingspolitik wird immer hektischer.

- In Berlin-Moabit wird derweil erbittert über die geplante Ersetzung von Gaslaternen durch LED-Leuchten gestritten.

Zeit, um was Schönes zu essen. Z.B. gebratene Kräuterseitlinge mit Estragon-Zitronenschalen-Mayonnaise und geriebenem Pecorino. ( ein Rezept aus „Effilee“)

fehlen natürlich noch ein paar Scheiben Baguette

Zeit, um was Schönes zu trinken. Z.B. einen großen, mineralisch geprägten Riesling von der Mosel, voller Saft, schier überbordend von Aromen tropischer Früchte und mit dezenter Kräuterwürze. (über den schreibe ich ein anderes Mal mehr).

Und natürlich Zeit, mal ein außerordentliches Stück Musik zu hören. Wie z.B. die neue CD vom ebenfalls neuen Joachim-Kühn-Trio- „Beauty & Truth“. Der große Altmeister des modernen deutschen Jazz hat sich mal wieder neu erfunden und spielt sich leichtfüßig (oder besser: leichthändig) und höllisch groovend durch ein paar Jahrzehnte Rock- und vor allem Jazzgeschichte. Mit freundlichen Grüßen von den Doors, George Gershwin, Ornette Coleman, Gil Evans und Krzystof Komeda. Keine „Coverversionen“ sondern Extraktion des „spirits“ eines jeden Stückes und dessen respektvolle Verarbeitung im unnachahmlichen Kühn-Sound, unterstützt von zwei kongenialen „jungen Wilden“ (Eric Scafer (drums), Chirs Jennings (bass). Ganz groß und vor allem Seelenmassage.

Den nicht nur, aber besonders in Sachsen erstarkenden Faschismus wird man mit Kräuterseitlingen, Riesling und einer CD von Joachim Kühn nicht stoppen können. Zumal er sich allmählich von den Rändern der Gesellschaft in die so genannte Mitte vorfrisst. Doch Genuss ist bekanntlich auch eine Form von mentaler Notwehr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Boot ist voll

Der folgende Text von mir erschien am 20. Februar in der Wochenendbeilage des “Neuen Deutschland”

Es ist die reinste Idylle. Trendig gewandete Kite-Surfer segeln über grillende türkische Großfamilien hinweg. Nur selten erschlagen sie beim Landeanflug einen Radfahrer, was wohl als Reminiszenz an die Geschichte des Areals als Flughafen verstanden werden kann. Eine Yoga-Lehrerin und ihre Jünger brabbeln Mantras, während versonnene urbane Citoyens an ihren Salatsetzlingen werkeln. Schnaufende Jogger und Pedalistas kontrollieren mit ihren High-Tech-Messgeräten am Handgelenk Kilometerleistung und Kalorienverbrauch, amüsiert betrachtet von trommelnden Kiffern, Kaffee trinkenden Pärchen und entschleunigten Flaneuren. Es ist Platz genug für alle, denn das Areal in Berlin umfasst immerhin 280 Hektar, ist also größer als der große Tiergarten.

Das ist die »Tempelhofer Freiheit«, von der alle träumten, als der Flughafen Berlin-Tempelhof im Oktober 2008 seinen Betrieb einstellen musste. Eine letzte Aufwallung der Westberliner Kalte-Kriegs-Generation, die das »Tor zur freien Welt« unter Beschwörung der Luftbrücke zur Versorgung der Stadt in den Jahren 1948/49 offenhalten wollte, war zuvor gescheitert. Der diesbezügliche Volksentscheid erreichte nicht das notwendige Quorum.

Die Öffnung des Feldes sollte eine Art Ende der Geschichte dieses Areals sein, doch diese Vorstellung erweist sich stets als Trugschluss. Seit seiner Erschließung im 18. Jahrhundert diente dieser märkische Sandacker als Projektionsfläche für epochale Entwicklungen bis hin zu Größenwahn und Allmachtsfantasien. Preußens Könige zelebrierten hier ihre Siegesfeiern, Luftfahrtpioniere ihren Traum vom Fliegen, für das Volk wurde der »Tivoli« gebaut, ein weiträumiger Freizeitpark mit Biergärten und Pferderennbahn. 1923 wurde schließlich der Flughafen Tempelhof eröffnet und in den folgenden beiden Jahrzehnten mit gigantischen Gebäudekomplexen eingerahmt. Das erwies sich als Steilvorlage für die NSDAP, die Tempelhof zum »Weltflughafen« machen wollte, zum globalen Verkehrsknotenpunkt der geplanten »Welthauptstadt Germania«. Doch letztendlich reichte es nur für ein kleines Konzentrationslager der SS und Produktionsanlagen für Sturzkampfbomber der Reichsluftwaffe nebst Baracken für Zwangsarbeiter. Zumal Hitlers Baumeister Speer bereits Anfang der 40er Jahre schwante, dass die Ausbaumöglichkeiten des inmitten von dicht besiedelten Wohngebieten liegenden Flughafens begrenzt sind. Er begann dann mit Planungen für einen Freizeitpark.

Dieses Vermächtnis sollte nach 2008 also Realität werden. Doch 280 Hektar in bester Innenstadtlage wecken Begehrlichkeiten, zumal in einer Stadt mit stetigem Bevölkerungswachstum und drängendem Wohnungsmangel. Beim Senat reiften Pläne, die Ränder des Feldes, insgesamt 30 Hektar, mit 4700 Wohnungen und einigen Bürokomplexen zu bebauen. Offensichtlich hatte man den Furor unterschätzt, den das auslösen würde. Binnen Monaten formierte sich eine mächtige, äußerst heterogene Bürgerbewegung. Flughafennostalgiker, Umweltschützer, Kleingärtner, Kiez-Aktivisten, Sonnenanbeter und Menschen, die es »denen da oben mal zeigen« wollten, waren sich einig: Keine Veränderung, keine Bebauung. Und sie waren erfolgreich: Im Mai 2014 erhielt ein entsprechender Gesetzentwurf bei einem Volksentscheid die deutliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Natürlich wurde in der Kampagne auch gelogen, dass sich die Balken biegen, aber das gehört zum politischen Geschäft. Neben den obligatorischen Kaltluftschneisen, freien Sichtachsen und Gefahren für die Biodiversität sowie der Verteidigung von Freiräumen und dem Erhalt des historischen Ensembles wurden u.a. auch Wohnungsspekulation (obwohl städtische Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften dort bauen sollten) und Verdrängung in den angrenzenden Kiezen durch »Aufwertung« und stark steigende Mietspiegelwerte ins Feld geführt (obwohl der Neubaumietspiegel nichts mit dem für Bestandswohnungen zu tun hat).

Was für die einen ein historischer Sieg für die direkte Demokratie war, stellte sich für andere als schwarzer Tag für die Stadtentwicklung dar. Denn in der Folge sprossen in allen erdenklichen Ecken Berlins Initiativen gegen Wohnungsbau wie Pilze aus dem Boden. Nein, nicht generell gegen Wohnungsbau, aber keinesfalls wollte man Wohnungsbau dort, wo man selber wohnt. Was in der Summe allerdings darauf hinauslaufen würde, dass nirgends gebaut werden kann. Im Kern ist es ein selbstbewusstes »alternatives« Bürgertum, welches sein »Recht auf Stadt« durchsetzen und die »gewachsene Struktur« seiner Kieze verteidigen will. So heißt es in den Satzbausteinen der »Mauerpark-Allianz« für Einwendungen gegen die dortige Baupläne u.a.: »Ich lehne den Bebauungsplan ab, weil zwischen alten und neuen Bewohnern zwei Welten aufeinander prasseln.« Der Senat schlug allerdings zurück und entzog den Bezirken in vielen Fällen die Planungshoheit, bereits eingeleitete Bürgerbegehren liefen ins Leere.

Das Feld selbst schien zunächst aus der Schusslinie zu sein, der Traum von der »Tempelhofer Freiheit« ging weiter. Doch dann kamen sie: Erst 10 000, dann 30 000, und bis Ende 2015 waren es sogar 80 000 Flüchtlinge, die in Berlin Schutz vor Krieg und Verfolgung oder Chancen für ein besseres Leben suchen. Keine Stadt der Welt dürfte auf Derartiges ausreichend vorbereitet sein, entsprechend schnell wurden die Unterkünfte knapp. Sicherlich kann man dem Senat einige Versäumnisse vorwerfen. Jahrelang wurde der Wohnungsbau vernachlässigt, viel zu spät und auch jetzt noch halbherzig gegen Leerstand und illegale Ferienwohnungen vorgegangen. Doch die 80 000 sind jetzt da und müssen vor der Obdachlosigkeit bewahrt werden. Unter anderem wurden bereits 60 Schulturnhallen belegt, was ebenfalls zu Protesten führte.

Nun also wieder Tempelhof. In den Hangars und in temporären Bauten auf dem betonierten Vorfeld sollen insgesamt 7000 Flüchtlinge untergebracht werden, geplant sind auch Infrastruktureinrichtungen wie ein medizinischer Stützpunkt, eine Großküche, eine Turnhalle, ein Sportplatz und ein Jugendklub. Um die temporäre Bebauung zu ermöglichen, wurde das Tempelhof-Gesetz vor einigen Wochen geändert. Jetzt stehen sie wieder alle auf der Matte. Zwar haben sich auch ein paar »besorgte Bürger« eingeschlichen, die sich in den einschlägigen Foren um die »Atmosphäre« und den »Erholungswert« des Feldes Gedanken machen, doch der Tenor des Protestes ist eindeutig: Man hat nichts gegen Flüchtlinge. Ganz im Gegenteil: Man sorgt sich um sie, weil derartige Massenlager menschenunwürdig seien und die Integration erschweren (was nicht von der Hand zu weisen ist). »Refugees welcome« und »Offene Grenzen und Bleiberecht für alle« gehört zum Standardrepertoire bei der Neuauflage des Tempelhofer Kulturkampfes. Als Alternative werden dezentrale Unterkünfte vorgeschlagen, wofür jeder Aktivist gleich ein paar Standorte im Ärmel hat – die sich allerdings bei näherer Betrachtung meistens als wenig realitätstauglich erweisen, vor allem in Bezug auf kurzfristige Nutzung. Antworten auf drohende Obdachlosigkeit und die Zahl 80 000 (und täglich werden es mehr) sind das jedenfalls nicht. Das gilt auch für den im linksradikalen Spektrum beliebten Lösungsvorschlag: Revolution machen und Immobilienbesitzer enteignen. Doch auch das könnte vielleicht noch eine gewisse Zeit dauern.

Aber eigentlich geht es ja – Flüchtlinge hin oder her – um das Feld an sich. Die mittlerweile ziemlich zerstrittene Initiative »100 Prozent Tempelhof« pflegt eine Art Verschwörungstheorie. Der Senat wolle mit Hilfe der Flüchtlinge jetzt »Rache« für den verlorenen Volksentscheid nehmen und die temporären Bauten als Einfallstor für eine spätere Komplettbebauung benutzen. Dazu ein User im Forum : »Plötzlich kommt mir der Verdacht, die Absicht des Senats ist es, das Feld mit Flüchtlingen zu versehen, damit es da stressig wird und sich später keiner mehr richtig für das Freibleiben des Feldes einsetzen will«.

Ja, es wird »stressig« werden, nicht nur auf dem Tempelhofer Feld. Schon jetzt verzeichnet die Stadt überdurchschnittlich viele Arme, Jugendliche ohne Schulabschluss und einen dramatischen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Durch diejenigen Flüchtlinge, die hier bleiben dürfen und wollen, wird sich die Situation verschärfen, unabhängig von Notunterbringungen wie jetzt in Tempelhof. Teile des aufgeklärten Bürgertums – also jenseits der AfD und sonstigen Dumpfbacken – haben längst eigene Strategien für die Situation entwickelt. Auf der einen Seite spenden sie Kleidung und Spielzeug für Flüchtlinge oder engagieren sich in Helfergruppen. Auf der anderen Seite verteidigen sie »ihre« Refugien und soziokulturellen Besitzstände und suchen nach Möglichkeiten, ihre Kinder in möglichst ausländerfreie Schulen zu schicken. Sie würden niemals laut sagen: »Das Boot ist voll«. Aber sie meinen es im Kern, wenn sie auf ihre »Freiräume« und »Kiezstrukturen« pochen. Tempelhof ist zur Projektionsfläche geworden.