Es war eine fast schon unwirkliche Idylle am Sonntagnachmittag im Nachbarschaftsheim “Stadtschloss” in Berlin-Moabit. Auf dem Hof war ein langer Tisch für die Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak gedeckt, die dort kurzfristig Unterschlupf gefunden hatten, weil das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) nicht mehr in der Lage ist, die ankommenden Menschen zu registrieren und auf die vorhandenen Unterkünfte zu verteilen. Es hatte für einigen Aufruhr gesorgt, dass den Flüchtlingen dort nur Blanko-Gutscheine für Hostels in die Hand gedrückt wurden – ohne Hinweis darauf, wo sich diese befinden. Und diejenigen, die das Glück hatten ein Hostel zu finden, wurden größtenteils abgewiesen, da das Land Berlin die Rechnungen für diese Gutscheine teilweise über Monate nicht beglichen hat. Hunderte von teilweise schwer traumatisierten und vollkommen erschöpften Menschen wurden in der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Welt mit Obdachlosigkeit empfangen.
Doch im “Stadtschluss” brutzelte der Grill für einen Berg marinierter Hühnerkeulen, die nebst diversen Salatren aufgetischt wurden. Ein benachbarter Friseur bot den Flüchtlingen kostenlose Haarschnitte an, vorher war man gemeinsam mit den vielen freiwilligen Helfern ins Freibad Plötzensee gegangen. Immerhin: Das ist – anders als in Sachsen – in den zivilisierten Teilen Berlins ohne Gefahr für Leib und Leben der Flüchtlinge möglich. Und die Bereitschaft zu Sachspenden – von Kleidung über Lebensmittel bis hin zu Hygieneartikeln – ist enorm – sowohl bei Anwohnern, als auch bei Einzelhändlern.
Doch auch Moabit ist keine Insel der glückseligen Willkommenskultur. Vor dem LaGeSo im inneren Bereich des alten Krankenhausgeländes an der Turmstraße sieht man am Montag nachmittag erneut hunderte von Menschen teilweise verzweifelt. teilweise fast schon apathisch auf Einlass warten. Erneut werden voraussichtlich viele keine Bleibe für die nächste Nacht finden und auf den Rasenflächen vor dem LaGeSo oder in den nahe gelegenen Parks campieren. Die Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünfte platzen nicht nur in Berlin-MItte aus allen Nähten. Die meisten Flüchtlinge haben nur eine zerschlissene Reisetasche oder ein paar Plastiktüten bei sich, ihr “Startkapital” für ein Leben in Sicherheit.
Diese Eindrücke sind schwer zu verarbeiten. Vor allem wenn sich nur ein paar Straßen weiter am Berliner Hauptbahnhof wie jeden Montagabend Rassisten und Nazis versammeln, um gegen “Überfremdung” und für “deutsche Identität” zu demonstrieren. Ihnen stellen sich stets Gegendemonstranten entgegen. Manchmal gelang es dem rechten Gesockse – geschützt von der Polizei – durch Teile des Moabiter Kiezes zu marschieren, diesmal hatten sie andere Pläne und bewegten sich Richtung Brandenburger Tor.
Derweil sucht die offizielle Politik – wie schon zu “rot-grünen” Zeiten – nach einem neuen Abschottungskonsens. Mit spezieller Repression gegen “Wirtschaftsflüchtlinge” aus den Balkanstaaten, schnelleren Asylverfahren und “konsequenten Abschiebungen” soll Dampf aus dem rechtspopulistischen Kessel gelassen werden, der in Deutschland wieder mächtig am Brodeln ist. Mutti will schließlich erneut kandidieren und hat diesmal gar die absolute Mehrheit im Visier, was angesichts einer als programmatisch eigenständigen politischen Kraft nicht mehr existenten SPD gar nicht so unrealistisch ist, falls es gelingt, der AFD mit “Rassismus light” genug Wind aus den Segeln zu nehmen.
Doch es geht nicht nur um den rassistischen Bodensatz der Gesellschaft. Es geht um den von Verlustängsten geprägten Mittelstand, der vielleicht noch ein Weilchen ein paar alte Klamotten und Spielsachen zu spenden bereit ist, aber dem Flüchtlingsstrom dennoch mit einer Mischung aus Ignoranz, Angst und verschämter Ablehnung begegnet. Es sind jene Menschen, die als CDU-, Grünen- oder SPD-Wähler die neoliberale Verarmungspolitik ebenso goutiert haben, wie die deutsche Kriegsbeteiligung auf dem Balkan und in Afghanistan – deren Spätfolgen wir jetzt in Form von Flüchtlingen erleben können. Und gerade sind “wir” dabei, einen weiteren Exodus zu forcieren, weil dem türkischen NATO-Partner erlaubt wird, den Terrorkrieg gegen kurdische ZIvilisten wieder anzufachen. Und die massenhafte soziale Verelendung, die “unser” Finanzminister Schäuble zur Vorbedingung für weitere Griechenland-Hilfen gemacht hat ist auch solide mehrheitsfähig in Deutschland.
Es könnte bald kippen. Immer mehr Flüchtlinge bedeuten immer mehr “Störung” des eigenen Lebensumfelds. Zumal nicht dankbare “edle Wilde” bei und ankommen, die ihre mitunter menschenunwürdige Behandlung ausnahmslos klaglos und apathisch hinnehmen werden. Viele haben nichts mehr zu verlieren, und wenn man ihnen nichts gibt, werden sie es sich nehmen. Wer die vergangenen Jahre im Krieg und im Chaos verbracht und teilweise unfassbare Strapazen auf seiner Flucht erlebt hat, wird nicht nach dem ersten Teller Suppe und dem ersten Feldbett in einer Turnhalle unsere Spielregeln verinnerlichen. Um diesen Menschen wirklich zu helfen, bei uns anzukommen, müssten enorme materielle und soziale Ressourcen mobilisiert werden Doch wie wird eine “Zivilgesellschaft”, die die soziale Ausgrenzung von Millionen hier bereits lebenden Menschen – vom Kind aus Hartz-IV-Familien bis zum Armutsrentner – schulterzuckend hinnimmt, mit der ungleich größeren Herausforderung globaler Flüchtlingsströme umgehen? Was ist eine “Europäische Union” wert, die zulässt, dass in einem Mitgliedsstaat sogar Notoperationen nur noch gegen Vorkasse vorgenommen werden? Die zulässt, dass andere Mitgliedsstaaten sich schlicht weigern, sich adäquat an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen? Was ist eine “Demokratie” wert, die gerade dabei ist, sich mit einem Freihandelsabkommen abzuschaffen? Wie lange wird der zivilisatorische Lack noch den hässlichen, empathiefreien Kern verdecken können?
Dem völkischen Mob kann man auf die Fresse hauen, direkt und im übertragenen Sinne. Der schweigenden staatstragenden Mehrheit aber nicht. Und genau das macht mir Angst und macht mich hilflos.