Da morgen möglicherweise vieles in Scherben fällt, wollte ich heute eigentlich noch mal meinen Rasen mähen. Aber dafür ist es definitiv zu heiß. Also lieber Schreibtisch leer arbeiten, ununterbrochen kalten grünen Tee und Wassermelonensaft mit Zitrone und Minze trinken und ein bisschen über Europa sinnieren.
Einiges spricht dafür, dass sich die Briten knapp für den Verbleib in der EU entscheiden werden. Und trotz der Komplexität dieser Angelegenheit bin ich der Anschauung: Das wäre auch gut so. Auch wenn mich das auf der nach oben offenen Verräter-Skala linksradikaler Hüter des absoluten Durchblicks weiter nach oben katapultieren wird. Falls das angesichts meiner Ablehnung der Losung „Offene Grenzen und Bleiberecht für Alle“ überhaupt noch geht.
Die Brexit-Kampagne in Großbritannien ist eindeutig nationalistisch und teilweise rassistisch konnotiert. Natürlich sind auch viele Briten zu Recht einfach sauer auf ihre Regierung, haben Angst vor Prekarisierung, Jobverlust und Verfall der öffentlichen Daseinsvorsorge, z.B. im Gesundheitswesen. Doch die Brexit-Kampagne lebt von von dem Zerrbild, dass dafür die britischen Zahlungen an die EU sowie die Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger verantwortlich seien. Was natürlich Quatsch ist. Denn ein Brexit würde an der neoliberal geprägten Klassenherrschaft in GB nichts ändern und die ökonomische Situation des Landes zudem eher verschlechtern. Dazu käme, dass es ein grandioser Erfolg für die Rechtspopulisten und Rassisten von UKIP bis hin zu Teilen der Tories wäre, der einen europaweiten Schub für derartige Bewegungen auslösen könnte.
Dass einige :Linke behaupten, ein Votum für den Austritt wäre vor allem ein Votum gegen die neoliberale Politik der EU und der britischen Regierung, ist abenteuerlich. Natürlich ist die EU in ihrer jetzigen Form ein undemokratisches, von Kapitalinteressen dominiertes Konstrukt, an dessen „Reformfähigkeit“nur zu berechtigte Zweifel existieren. Auch haben die Machteliten in der EU – nicht nur , aber vor allem die Deutschen – hinlänglich bewiesen, dass sie bereit sind, bei der Durchsetzung ihrer Austeritätspolitik im Euro-Raum buchstäblich über Leichen zu gehen (s.Griechenland). Und schon ohne „Brexit“ sind die Zentrifugalkräfte in der EU derzeit so stark, wie zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens. Der Widerstand gegen jegliche Form der europäischen Integration kommt in erster Linie aber nicht von links, sondern von rechts. So wollen starke linksnationalistische Bewegungen wie in Schottland und Katalonien zwar ihre nationale Unabhängigkeit in den jeweiligen Zentralstaaten durchsetzen, aber keinesfalls die EU verlassen.
Ihre Fähigkeit, aggressiven Nationalismus nebst Re-Etablierung vordemokratischer, autokratischer Strukturen in den Mitgliedsstaaten zu verhindern oder wenigstens einzudämmen hat die EU schon jetzt weitgehend verloren. Ungarn und Polen könnten in ihrer jetzigen Verfassung gar nicht mehr in die EU aufgenommen werden, wenn man deren Mitgliedschaftskriterien zu Grunde legen würde. Schon jetzt ist die EU in der Flüchtlingsfrage weitgehend handlungsunfähig, eine geregelte Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen findet aufgrund des Widerstands der meisten Mitglieder nicht statt.-Kleinster gemeinsame Nenner ist stattdessen eine rigorose Abschottungspolitik und ein perverses Zweckbündnis mit dem durchgeknallten Schwerverbrecher, der die Türkei beherrscht.
Ein „Brexit“ wäre vor diesem Hintergrund jedenfalls kein irgendwie geartetes Aufbruchsignal für ein demokratisches Europa, dass auch seinen politischen und humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nachkommt und Schritte für die Verbesserung der Lebenssituation in den Ländern Europas realisiert – sondern das genaue Gegenteil.
Ja, die EU ist ziemlicher Bullshit. Doch aktuell gibt es leider keine realistische Alternative. Außer der, dass sich die Marginalisierten, Ausgebeuteten und Prekarisierten in allen Ländern endlich machtvoll zu Wort melden, um dem neoliberalen Spuk ein Ende zu machen. Doch abgesehen von Spanien, Griechenland und Portugal wird soziale Unzufriedenheit derzeit erfolgreich von rechten und rassistischen Bewegungen kanalisiert. Ein Brexit würde diese Entwicklung gewaltig befördern. Und darauf habe ich keinen Bock.