Brexit – nein danke!

Da morgen möglicherweise vieles in Scherben fällt, wollte ich heute eigentlich noch mal meinen Rasen mähen. Aber dafür ist es definitiv zu heiß. Also lieber Schreibtisch leer arbeiten, ununterbrochen kalten grünen Tee und Wassermelonensaft mit Zitrone und Minze trinken und ein bisschen über Europa sinnieren.

Einiges spricht dafür, dass sich die Briten knapp für den Verbleib in der EU entscheiden werden. Und trotz der Komplexität dieser Angelegenheit bin ich der Anschauung: Das wäre auch gut so. Auch wenn mich das auf der nach oben offenen Verräter-Skala linksradikaler Hüter des absoluten Durchblicks weiter nach oben katapultieren wird. Falls das angesichts meiner Ablehnung der Losung „Offene Grenzen und Bleiberecht für Alle“ überhaupt noch geht.

Die Brexit-Kampagne in Großbritannien ist eindeutig nationalistisch und teilweise rassistisch konnotiert. Natürlich sind auch viele Briten zu Recht einfach sauer auf ihre Regierung, haben Angst vor Prekarisierung, Jobverlust und Verfall der öffentlichen Daseinsvorsorge, z.B. im Gesundheitswesen. Doch die Brexit-Kampagne lebt von von dem Zerrbild, dass dafür die britischen Zahlungen an die EU sowie die Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger verantwortlich seien. Was natürlich Quatsch ist. Denn ein Brexit würde an der neoliberal geprägten Klassenherrschaft in GB nichts ändern und die ökonomische Situation des Landes zudem eher verschlechtern. Dazu käme, dass es ein grandioser Erfolg für die Rechtspopulisten und Rassisten von UKIP bis hin zu Teilen der Tories wäre, der einen europaweiten Schub für derartige Bewegungen auslösen könnte.

Dass einige :Linke behaupten, ein Votum für den Austritt wäre vor allem ein Votum gegen die neoliberale Politik der EU und der britischen Regierung, ist abenteuerlich. Natürlich ist die EU in ihrer jetzigen Form ein undemokratisches, von Kapitalinteressen dominiertes Konstrukt, an dessen „Reformfähigkeit“nur zu berechtigte Zweifel existieren. Auch haben die Machteliten in der EU – nicht nur , aber vor allem die Deutschen – hinlänglich bewiesen, dass sie bereit sind, bei der Durchsetzung ihrer Austeritätspolitik im Euro-Raum buchstäblich über Leichen zu gehen (s.Griechenland). Und schon ohne „Brexit“ sind die Zentrifugalkräfte in der EU derzeit so stark, wie zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens. Der Widerstand gegen jegliche Form der europäischen Integration kommt in erster Linie aber nicht von links, sondern von rechts. So wollen starke linksnationalistische Bewegungen wie in Schottland und Katalonien zwar ihre nationale Unabhängigkeit in den jeweiligen Zentralstaaten durchsetzen, aber keinesfalls die EU verlassen.

Ihre Fähigkeit, aggressiven Nationalismus nebst Re-Etablierung vordemokratischer, autokratischer Strukturen in den Mitgliedsstaaten zu verhindern oder wenigstens einzudämmen hat die EU schon jetzt weitgehend verloren. Ungarn und Polen könnten in ihrer jetzigen Verfassung gar nicht mehr in die EU aufgenommen werden, wenn man deren Mitgliedschaftskriterien zu Grunde legen würde. Schon jetzt ist die EU in der Flüchtlingsfrage weitgehend handlungsunfähig, eine geregelte Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen findet aufgrund des Widerstands der meisten Mitglieder nicht statt.-Kleinster gemeinsame Nenner ist stattdessen eine rigorose Abschottungspolitik und ein perverses Zweckbündnis mit dem durchgeknallten Schwerverbrecher, der die Türkei beherrscht.

Ein „Brexit“ wäre vor diesem Hintergrund jedenfalls kein irgendwie geartetes Aufbruchsignal für ein demokratisches Europa, dass auch seinen politischen und humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nachkommt und Schritte für die Verbesserung der Lebenssituation in den Ländern Europas realisiert – sondern das genaue Gegenteil.

Ja, die EU ist ziemlicher Bullshit. Doch aktuell gibt es leider keine realistische Alternative. Außer der, dass sich die Marginalisierten, Ausgebeuteten und Prekarisierten in allen Ländern endlich machtvoll zu Wort melden, um dem neoliberalen Spuk ein Ende zu machen. Doch abgesehen von Spanien, Griechenland und Portugal wird soziale Unzufriedenheit derzeit erfolgreich von rechten und rassistischen Bewegungen kanalisiert. Ein Brexit würde diese Entwicklung gewaltig befördern. Und darauf habe ich keinen Bock.

 

Der Tag des Herrn – auch für Agnostiker

Sonntag ist der Tag des Herrn. Das könnte mir als Agnostiker eigentlich egal sein, aber wenn man sich auf dem Leipziger Bachfest befindet, bietet dieser Tag eine besondere Ballung musikalischer Genüsse, da neben den “richtigen” Konzerten auch der liturgische Alltag der Bachschen Musik in geballter Form präsentiert wurde. Man muss dann die “Werbeeinblendungen” der evangelischen Kirche in Kauf nehmen, dafür kostet es keinen Eintritt.

Ich begann den Tag mit einem Gottesdienst auf dem Marktplatz.. Dieser war nicht so gut gefüllt wie in den vergangenen Jahren, was wohl weniger mit wachsender Kirchenferne, als vielmehr mit der Besetzung zu tun hatte. Die Hallenser Madrigalisten haben nun mal vor allem auf die aus aller Welt angereisten Kulturtouristen weniger Sogkraft als der berühmte Thomanerchor. Durchaus zu Unrecht, denn die vom Leipziger Barockorchester begleiteten Hallenser sangen sich klar, dynamisch und präzise durch die Bach-Kantate “Ach Herr, mich armen Sünder” und ein kleines, sechsstimmiges Chorwerk von Heinrich Schütz. Und alleine der leider auf ein kleines Rezitativ in der Kantate beschränkte Auftritt der Leipziger Altistin Susanne Krumbiegel war den Besuch des Gottesdienstes wert.

Immer wieder ein Genuss: Die Leipziger Altistin Susanne Krumbiegel

Eher durch Zufall gelangte ich zu einer weiteren Veranstaltung dieser Art, dem Universitätsgottesdienst in der Nikolaikirche. Dort gab es weder Chor noch Orchester, dafür aber Daniel Beilschmidt an der Orgel, und das nicht nur zur Begleitung der von der Gemeinde gesungenen Kirchenlieder. Die von ihm dargebotene Fantasie und Fuge über B-A-C-H von Max Reger erklang auf dem großartigen Instrument dieser Kirche in ihrer ganzen Wucht und Fülle. Scheinbar rast- und ziellose harmonische Wanderungen rund um das kleine Motiv landen immer wieder an ihrem magischen Pol, wobei Beilschmidt (fast im wahrsten Sinne des Wortes) alle Register zieht. Kein Easy Listening, aber ein guter Einstieg in die Welt des Max Reger, für den Bach stets „der Anfang und das Ende aller Musik“ bedeutete.

Kleiner Mensch und große Orgel: Daniel Beilschmidt in der Nikolaikirche.

Nach einem “richtigen” Kantatenkonzert mit tollen Solisten aber dem nicht vollkommen überzeugenden Knabenchor Hannover dann schließlich Kammermusik in dem liebevoll restaurierten Ballsaal des früheren “Hotel de Pologne” mit dem Klenke-Quartett. Die vier Streicherinnen boten eine Art “Konsens-Programm”: Erst ein bisschen Bach in Form einiger Takte aus der “Kunst der Fuge”, dann ein belangloses, aber nett anzuhörendes Streichquartett von W.A. Mozart und zum Abschluss noch etwas “härteren Stoff”. Verstärkt durch den renommierten Klarinettisten Alexander Bader wurde ein spätes Werk des 1916 verstorbenen Max Reger aufgeführt. Ausgehend von einem sparsamen, an Brahms erinnernden Motiv entwickelte Reger ein äußerst kontrast- und variantesreiches Harmoniegeflecht, voller harmonischer und rhythmischer Finessen. Und vor allem sehr klar und detailversessen dargeboten.

Eigentlich hätte man sich nach diesem Abendkonzert noch ein Orgelspektakel auf dem Marktplatz anschauen können. Doch das fiel den zwischenzeitlich heftigen Regengüssen zum Opfer. Die hatten aber auch etwas Positives. Die akustische und visuelle Tortur durch marodierende, euphorisierte Fußballfans blieb einem witterungsbeding erspart.

 

Wenn Leipzig nur immer so wäre….

Während des Bachfestes entwickelt die Leipziger Innenstadt manchmal einen ganz speziellen „spirit”. Auf dem Marktplatz probt ein Chor für den Sonntagsgottestdienst, vor der Bach-Statue an der Thomaskirche singen einige Musikstudenten alte Madrigale. Im Thomascafe huscht der neue Thomaskantor vorbei und selbst die an- und abschwellenden Fahrgeräusche der Straßenbahnen auf dem hinter der Kirche liegendem Ring klingen fast wie eine chromatische Fantasie.

Der größte Thomaskantor aller Zeiten…

 

Zeit für jene Kleinigkeiten, die das Bachfest jenseits der großen Konzerten so schön machen. Im Café treten drei junge Thomaner auf – als Jazztrio (Klavier, Bass, Schlagzeug). Alleine das belegt, wie sehr sich das Selbstverständnis dieser kirchenmusikalischen Eliteeinrichtung mittlerweile gewandelt hat.

…und sein 17. Nachfolger Gotthold Schwarz

Doch natürlich bleiben die großen Konzerte die Höhepunkte. Das Salomon’s Knot Baroque Collective aus London pflegt eine sehr spezielle, aber keineswegs abwegige Interpretationsweise großer liturgischer Werke von Bach. Mit einem zehnköpfigen Solistensemble, das auch die Chorparts übernimmt, und einer kammermusikalischen Orchesterbesetzung widmet man sich auch harmonisch schier überbordenden Werken wie der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, mit der sich Bach 1720 als Organist bei der Hamburger Jacobikirche beworben hatte, allerdings erfolglos.

Ein Meisterwerk, das alle Facetten des seinerzeitigen kompositorischen Repertoires von Bach vereint: Ausladende Motetten, an Fugen erinnernde Instrumentalsätze, tonmalerische Arien und nicht zuletzt ein Duett, das auch noch 100 Jahre später jede Oper deutlich aufgewertet hätte.

Die Briten behandeln das Werk mit gebotener Ernsthaftigkeit, aber dennoch faszinierender Leichtigkeit. Das kleine Ensemble wirkt wie eine eingeschworene Bande hochenergetischer Musiker. Man arbeitet ohne Dirigat und ohne Notenpulte, was in diesem Falle die Ausdruckskraft und das Zusammenspiel noch deutlich befördert. Ja, es klingt im Sinne Alter Musik „very british“, aber das hätte den ollen Bach bestimmt nicht gestört, ganz im Gegenteil.

Nils Landgren ließ es krachen, ganz im Sinne Bachs

Das gilt natürlich auch für Jazzadaptionen Bachscher Werke, die der schwedische Funk-Veteran Nils Landgren mit seiner Band anschließend auf dem Marktplatz darbot, bevor er sich in die gewohnten swingenden und groovenden Gefilde verabschiedete. Jedenfalls ein angemessen luftiger, fröhlicher Ausklang eines erlebnisreichen Tages auf dem Leipziger Bachfest.

Der Sound der Apokalypse

Wer schon immer mal wissen wollte, wie es an der Eingangstür zur Hölle klingt, der war beim Eröffnungskonzert des Leipziger Bachfestes am Freitag in der Thomaskirche vollkommen richtig. Max Regers im Herbst/Winter 2014 entstandenes Requiem-Fragment widmete sich dem Grauen der ersten großen Gemetzel des 1.Weltkriegs. Aus dem sehr dichten, düsteren, ja nahezu apokalyptischen Klanggerüst des Chores und des Orchesters brechen sich immer wieder Furcht, Entsetzen, flehende Klagen und Schreie der Angst ihre Bahn – und werden stets wieder eingefangen. Und wenn die Programmgestalter nicht auf die gute Idee gekommen wären, diesen Horror am Ende übergangslos mit einem tröstlichen Bach-Choral („Es ist genug,Herr, wenn es dir gefällt“) aufzufangen, wären schlaflose Nächte oder Albträume bei vielen Konzertbesuchern kaum zu vermeiden gewesen.

Ein fesselndes Werk, das so gar nicht zum kriegsbegeisterten Hurra-Patriotismus der ersten beiden Jahre des 1.Weltkriegs passen wollte. Und wohl von Reger auch deswegen nie fertiggestellt, geschweige denn aufgeführt wurde. Ein unglaubliche Leistung der Solisten, der beteiligten drei Chöre und vor allem des Dirigenten Gotthold Schwarz, der nach 17 Monaten als „Interimus“ am Donnerstag offiziell zum Thomaskantor ernannt wurde, als 17. Nachfolger von Johann Sebastian Bach. Wer so ein Werk so transpariert und detailversessen zum Klingen bringen kann ist definitiv keine Fehlbesetzung für diese große Aufgabe.

Umsonst und draußen auf dem Marktplatz-so geht Bach heute auch

 

Schön, dass man es beim Bachfest stets auch etwas lockerer ausklingen lassen kann. Auf dem Marktplatz wurden von der deutsch-französischen Jugendakedemie einige kirchenmusikalische Werke der verdaulicheren Art dargeboten, es folgte ein ebenfalls gut anzuhörendes Crossover-Vocalquartett. Dazu ein gutes sächsisches Pils in der lauen Sommerluft, und die Reger’sche Apokalypse verliert ihren (heilsamen) Schrecken. Vergessen werde ich diese Aufführung allerdings nicht so schnell. Und das ist auch gut so

 

 

Es wird wieder Zeit für Leipzig

Eigentlich hat man überhaupt keine Lust mehr, nach Sachsen zu fahren. Die Anzahl der Nazis, Rassisten und Dumpfbacken ist in diesem Bundesland offensichtlich überproportional groß, und in Sachen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und andere Übergriffe auf “Asylschmarotzer”  lassen sich die Sachsen von niemandem was vormachen. Die Außensicht auf Dresden wird längst vom  PEGIDA-Gesindel auf den Straßen geprägt.

In Leipzig ist es wohl nicht ganz so schlimm, Und eine Stadt, die so würdevoll mit dem Erbe des möglicherweise wichtigsten Komponisten der Kulturschichte umgeht, kann nicht wirklich schlecht sein.

Ab morgen tauche ich für einige Tage in eine Welt voller Schönheit und Klarheit ein. In einen emotionalen Kosmos, den ich als jährliche Kraftquelle nicht mehr missen möchte. Ich fahre zum Leipziger Bachfest  , das diesmal unter dem Motto “Geheimnisse der Harmonie” steht.. Ein Fest, dass diesmal auch einem anderen großen Musiker gewidmet ist, der lange Zeit in Leipzig gewirkt hat und zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Max Reger.

Und alles andere wird in diesen Tagen ziemlich weit weg sein……

 

Alles Rosé oder wie? Ein Schlachtbericht

Am Freitag wurde wieder mal eine Schlacht geschlagen. Bei der „Berliner Rosé-Battle“ mussten 14 Rosé-Weine zeigen, was sie drauf haben – oder eben auch nicht. Austragungsort war nicht eine der einschlägigen Locations, wo sich die Hippen und Reichen der Szene treffen, sondern das Schöner Hausen“, ein kleiner, feiner und ausgesprochen gut sortierter Wein- und Feinkostladen in der Wollankstraße, im noch etwas “unhippen” und daher weniger überdrehten Teil von Pankow.

an die Arbeit….

 

Für die Battle wurde ein interessanter stilistischer Querschnitt aufgeboten. Eher dünnlich-süßliche Tröpfen aus Saftabzug ohne Säurebiss bis hin zu ausgesprochen wuchtigen Rosés aus Ganztraubenpressung, die auch Bekanntschaft mit Holz gemacht hatten. Einige Weine hätte man in schwarzen Probiergläsern schwerlich als Rosé identifiziert, andere verkörperten diesen Weintypus nahezu idealtypisch. Vertreten waren mehrere französische Regionen, das Burgenland, Württemberg, die Nahe und Villány (Ungarn).

In den Diskussionen während der von dem Sommelier Ralph Martin geleiteten und Inhaberin Viola Westphal mit leckeren Quiche begleiteten (Blind)Verkostung ging es immer wieder um die Frage, was einen guten Rosé denn nun eigentlich ausmachen sollte. Muss er als klassischer Sommerwein stets leicht sein? Wie präsent sollte die typische Primärfrucht (Erdbeeren, Himbeeren etc.) sein? Was ist mit dem „Säurekick“? Verträgt ein Rosé überhaupt Holz?

Natürlich gingen die Meinungen auseinander. Dennoch gab es einen eindeutigen Sieger (den ich persönlich auf Platz 2 gesetzt habe, aber das nur nebenbei.) Der Chateau la Tour de l’Eveque 2015 aus der Provence bietet schon in der Nase sehr feine, nicht überbordende Beerenfrucht. Am Gaumen entwickelt sich ein perfektes Süße-Säure-Spiel und im Mund verbleibt ein langer Nachhall mit einigem Schmelz. Dennoch ein animierender Wein, der nicht „satt macht“. Im „Schöner Hausen“ wird er für 11,50 Euro angeboten. Interessant vielleicht, dass es sich um den „Zweitwein“ des Erzeugers handelt. Seine Premium-Abfüllung erschien den meisten in der Verkostung zu holzlastig und zu unharmonisch. Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass Preis oder Kategorisierung nur bedingt als Indikatoren für die Weinqualität taugen.

So sehen Sieger aus….

 

Nach der eigentlichen Verkostung klang der Abend in der Pankower Abendsonne mit entspanntem „Restetrinken“ und ein paar Gläschen Champagner aus. Man kann einen Freitagabend jedenfalls wesentlich dämlicher verbringen. Und wer mal in der Gegen ist, sollte dem „Schöner Hausen“ unbedingt mal einen Besuch abstatten.


 


Abflug mit Joachim Kühn und Émile Parisien

Wirklich spannende Musik entsteht mitunter dann, wenn Verrückte da anfangen, wo normale Menschen aufhören. Der 72jährige Pianist Joachim Kühn hat genug gehört, erlebt und gemacht, um sich noch mit Petitessen wie „Stilistik“ oder „Genre“ abgeben zu müssen. Seine Auftritte sind expressive Momentaufnahmen eines beseelten Musikers, der sein Material nicht sucht, sondern findet, der seine mal brettharten, mal perlenden Harmonie- und Melodiekonvolute einfach fließen lässt. Mit dem Sopransaxophonisten Émile Parisien – der zwar sein Enkel sein könnte aber offensichtlich ähnlich tickt – brannte Kühn am Mittwoch im Kesselhaus in der Berliner Kulturbrauerei ein Feuerwerk ab, wie man es leider viel zu selten erlebt. Man startet bei den Stücken irgendwo, z.B. bei Ornette Coleman oder den Sounds der Musiker in der norsafrikanischen Wüste, und lässt es dann laufen. Diese Art von Duo ist Kommunikation und Intuition pur, rauschhaftes Spiel auf einer Wellenlänge bis zum präzisen Landeanflug. Derartige Auftritte sind immer Unikate, nur eingeschränkt reproduzierbar. Glücklicherweise hat Deutschlandradio Kultur das Event aufgezeichnet und wird es am Montag senden. Laut machen, Augen zu und mitfliegen.

Womit wir beim Hintergrund dieses Auftritts wären. Zum nunmehr 10. Mal fand in Berlin das Festival „Jazzdor Strasbourg-Berlin statt, das am heutigen Freitag nach vier Tagen die Pforten schließt. Der Name ist schnell erklärt. Es handelt sich um die Berliner Dependance eines Jazzfestivals in Strasbourg, bei dem hauptsächlich französische Musiker präsentiert werden, die teilweise erstmals in Deutschland auftreten. Mit dem Kesselhaus in der Kulturbrauerei hat man auch eine atmosphärisch geeignete Spielstätte gefunden. Es ist ein Festival für Entdecker, und in der französischen Jazzszene gibt es viel zu entdecken, wie z.B. das Quartett der aus Syrien stammenden Flötistin Naissam Jalal, dass sich bruchlos zwischen orientalischer Trance und urbanen Grooves bewegt. Und es gibt natürlich auch eher verkopftes, peudo-freies Zeugs, das besonders in Berlin eine stabile Fangemeinde hat. Aber ein Festival, das nur aus Highlights besteht bzw. nur den eigenen Geschmack bedient, wäre stinklangweilig.

Wie gesagt: Heute abend ist Schluss, und der Auftritt von „Le Bal des Faux Frères“ könnte für heftiges Ballroom-Feeling sorgen. Gerne erwähne ich noch eine Kleinigkeit. Das Weinangebot in Klubs wie dem „Kesselhaus“ bewegt sich in der Regel zwischen Beleidigung und Körperverletzung. Doch wenn ein französischer Veranstalter das Heft in der Hand hat, kann man aufatmen bzw. beruhigt trinken. Z.B. einen gradlinigen, frischen Picpoul de Penet mit feinem Säurekick. Vive la France! Und im nächsten Jahr werde ich mich bereits im Vorfeld diesen engagierten Festival widmen. Versprochen!

KInderarmut? Mir doch egal!

Eigentlich wollte ich mich einigermaßen unbeschwert auf bevorstehende kulturelle Hochgenüsse einstimmen. Heute abend besuche ich ein Konzert mit den drei großartigen JazzpianistenLeszek Mozdzer, Iiro Rantala und Michael Wollny in der Berliner Philharmonie. Morgen gibt sich Altmeister Joachim Kühn im Kesselhaus die Ehre. Und Ende nächster Woche beginnt bereits das jährliche Bachfest in Leipzig, für mich stets eine ergiebige Quelle für Sammlung, Erbauung und das Schöpfen neuer Kraft.

Doch die Scheiß-Realität in diesem Land lässt einen – sofern man sozial nicht komplett abgestumpft ist – einfach nicht los. Eine simple statistische Auswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit hat ergeben, dass mittlerweile jedes siebente Kind unter 15 Jahren in Hartz-IV-Armut lebt, Tendenz steigend. In Berlin ist es sogar fast jedes dritte Kind, ebenfalls ein deutliches Plus gegenüber dem Vorjahr. Und das in einer Stadt, deren Repräsentanten nicht müde werden, die großartige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Metropole zu bejubeln.

 

Nein, diese Kinder (und ihre Eltern) müssen in der Regel nicht hungern und frieren, und sie haben auch ein Dach über dem Kopf. Aber sie sind sozial und kulturell weitgehend ausgegrenzt und haben entsprechend schlechte Chancen, dem materiellen und soziokulturellen Elend nachhaltig entwachsen zu können.

Für ein bis zwei Tage wird diese Meldung für einiges Medien-Bohei sorgen. Wir werden mahnende Worte hören, auch von „Erschütterung“ und „unhaltbaren Zuständen“ wird sie Rede sein. Politiker werden ihre – offensichtlich vollkommen verfehlten – Konzepte zur Überwindung massenhafter Kinderarmut präsentieren, Sozialverbände auf spürbare materielle Verbesserungen für arme Familien pochen. Nach ein paar Tagen ist wieder alles vorbei und passieren wird – NICHTS.

Selbst die L:INKE diskutiert derzeit mehr über Tortenwürfe und Regierungsbeteiligungen, einflussreiche GRÜNE warnen derweil vor Forderungen nach einer Vermögenssteuer, da dies „Wähler der Mitte“ abschrecken könnte. Und über die sozialpolitische Bankrottkoalition aus CDU/CSU und SPD braucht man wohl eh kein Wort mehr verlieren. Profitieren von Horrormeldungen zur Kinderarmut wird in erster Linie die AfD, denn die hat mit Flüchtlingen und „integrationsunfähigen Muslimen“ längst griffige Sündenböcke für alle sozialen Probleme dieses Landes zu bieten.

Dass Rechtspopulisten gewisse Erfolge erzielen, ist dabei nicht das eigentliche Problem. Vielmehr fehlt es in diesem von Abstiegsängsten bis weit in die Mittelschichten geprägtem Land an einer starken sozialen Opposition, die eine umfassende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf die Tagesordnung setzt. Denn nur dies könnte eine wirklich nachhaltige Überwindung von Kinder-, Bildungs- und Altersarmut zumindestens möglich machen. Doch die deutsche Gesellschaft befindet sich – wiederum bis weit in die Mittelschichten hinein, aber diesmal von oben gesehen – in einem relativ radikalen Abschottungsmodus gegen „die da unten“. Die spielen auch in der soziokulturellen Lebenswelt der meisten links oder wenigstens sozialhumanistisch eingestellten Menschen kaum eine Rolle. Wenn man mal von den punktuellen Formen der ehrenamtlichen Hilfsbereitschaft absieht. Oder der gelegentlichen Spende für einen Obdachlosen in der U-Bahn oder ein Hilfsprojekt. „Wir“ haben schließlich genug mit unseren eigenen mehr oder weniger dramatischen Existenzängsten zu kämpfen. Ab einer gewissen Gehalts- oder Vermögensklasse ist das dann halt die Finanzierung der Eigentumsimmobilie, der nächsten großen Urlaubsreise, oder der physischen und psychischen Selbstoptimierung.

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Und verzeichnet gleichzeitig rasant wachsende Armut. Wir sind offenbar bereit, das in Kauf zu nehmen. Sonst würden wir handeln.

Zwischen Rasenmäher, Elbling und islamischen Geisterfahrten

Ich liebe Abwechslung. Gestern abend habe ich noch in Moabit eine recht spannende Podiumsdiskussion über Flüchtlinge und Wohnungsbau moderiert und heute in Wandlitz Rasen gemäht und Beete gesäubert. Dann war natürlich ein kleiner Vorabend-Snack fällig. Gemäß dem Motto des prominentesten Ex-Wandlitzers, Erich Honecker: „Wer feste arbeitet soll auch feste feiern“.

Ein paar Austern, ein paar gegrillte Sardinen und der neue Elbling von Stephan Steinmetz erschienen mir angemessen. Sein 2015er hat – fast untypisch – viel Schmelz, wirkt eine Spur süßer als im Vorjahr, beschert aber dennoch den angemessenen Säurekick. Wer noch immer meint, Elbling wäre eine irgendwie doofe Rebsorte, sollte die Gelegenheit nutzen, die Ergebnisse des hervorragenden Jahrgangs 2015 zu probieren.

Wenn schon Siesta in Wandlitz, dann richtig

Zu Sardinen trinke ich eigentlich vorzugsweise Rosé oder ähnliches, doch das ging diesmal wirklich nicht. Der „Spätburgunder Weißherbst feinherb 2014“von Goswin Kranz aus Brauneberg (Mosel) ist – freundlich formuliert – eine Nullnummer. Keine Säurespiel, keine Spannung, nur ein wenig süßliche Frucht und ein merkwürdiger Mumpf im Abgang. Soll sich dennoch laut der Weinhändlerin, die ihn mir zum Verkosten gab, verkaufen „wie geschnitten Brot“. Kann durchaus sein, vor allem bei einer meist weiblichen, Prosecco-sozialisierten Klientel.

Dennoch alles ganz entspannt hier, doch mir liegt noch was schwer im Magen. Vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass eine musikbetonte Berliner Grundschule mit sehr hohem Anteil von Kindern aus muslimischen Familien ihre Teilnahme an der jährlichen Aufführung dieser Schulen in der Berliner Philharmonie absagen musste – weil die Aufführung in den Ramadan fällt, und die Kinder nach Meinung vieler Eltern in dieser Zeit nicht an derartigen Aktivitäten teilnehmen dürfen.

Ich weiß nicht, ob sich so ein Bullshit aus dem Koran ableiten lässt. Es ist mir auch herzlich egal. Die betreffende Schule wird seit langer Zeit als Leuchtturm integrativer musischer Bildung gerade für Kinder aus so genannten bildungsfernen Schichten abgefeiert, der Auftritt in der Philharmonie ist seit Jahren ein Highlight – und dafür gibt’s jetzt mal eben einen Tritt von Teilen der muslimischen Elternschaft. Nach besagter Podiumsdiskussion erzählte ich die Geschichte zwei Teilnehmerinnen, einer grünen Abgeordnete und einer sozial engagierten. Architektin. Reaktion: Man müsse halt auf die religiösen Gefühle der Eltern Rücksicht nehmen.

Hallo? Da läuft was gewaltig schief, und wenn wir das Thema Islam und Integration nicht der AfD überlassen wollen, müssen wir und was einfallen lassen.

So, der Frust ist fast verraucht, ich gönne mir noch eine 2. Ladung Sardinen und den Rest vom Elbling. Genuss ist schließlich Notwehr.

Ein besorgter Bürger auf der Suche nach Rosé

Es lebe das Multitasking. Quasi parallel habe ich ein Gespräch mit einem Berliner Direktkandidaten der LINKEN, der früher mal Manager einer Fluggesellschaft war und jetzt eine reformierte Gemeinde leitet, vorbereitet, den News zur Präsidentenwahl in Österreich gelauscht, sowie die ersten Seiten eines spannenden Buches über die „regressive Moderne gelesen.

Jetzt habe ich Hunger! Daher bin ich zwischendurch auch zu „Mitte Meer“ gefahren. Eigentlich wollte ich Austern kaufen, da der neue Elbling von Stephan Steinmetz eingetroffen ist. Hatten sie nicht. Also rote Meerbarben, die schön in Öl, Knoblauch, Meersalz, Basilikumblüten und Zitronensaft mariniert werden, um dann eingewickelt in Pergamentpapier im Ofen zu garen.

Irgendwann muss mit FPÖ und regressiver Moderne auch mal Schluss sein.

Aber eigentlich bin ich auch nur ein „besorgter Bürger“. Jedes Jahr mache ich mir, wenn die ersten richtig heißen Tage kommen, große Sorgen, ob es denn guten, frischen Rosé des aktuellen Jahrgangs gibt. Diesmal hab ich Glück gehabt: Einer meiner ersten Versuche, der Rosato Borgaio vom Castello di Meleto, war gleich ein Treffer. Keine Rotwein-Abfallverwertung sondern ein frischer, kräftiger Rosé aus Sangiovese mit feinen Beerenaromen und knackiger Säure. Vor allem fernab von allem genretypischen Erdbeerkitsch. Ein bisschen Maischestandzeit hat ihm ordentlich Struktur verpasst, dennoch bleiben die Gerbstoffe weitgehend außen vor. So kann Rosé. Vielleicht ein bisschen zu schwer für den Terrassentrunk, aber ein schöner Begleiter für die durchaus kräftig gewürzten Fische. Dazu Weißbrot aus der „Meisterbäckerei“ (die heißt wirklich so und zwar zu Recht) in Moabit-Süd und dann findet ein anstrengend-verdrießlicher Tag doch noch einen versöhnlichen Ausklang.