Gibt’s was zu feiern? Na klar, die Muschelzeit

Am 9. November gibt es viel zu feiern. Zwar ist die Bundesrepublik knapp an der Peinlichkeit vorbeigeschrappt, das Datum zum offiziellen Nationalfeiertag zu erklären, an salbungsvollen Worten und peinlichen Veranstaltungen mangelt es aber dennoch nicht. Immerhin ist es der Jahrestag der endgültigen Kapitulation der SED und der DDR-Staatsführung. Mit der Öffnung der Mauer am 9.November 1989 war der missglückte Versuch, als Reaktion auf die Nazi-Barbarei einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen, endgültig gescheitert. Deutschland durfte nunmehr auch wieder Kriege führen und das deutsche Kapital konnte seine soziale Maske allmählich fallen lassen sowie seine ökonomische Vorherrschaft in Europa durchsetzen. Manche nennen das „Freiheit“.

 Nicht gefeiert wird dagegen der 9.November 1938, als die NSDAP eine neue Phase des Terrors gegen Juden einleitete. Viele große und kleine Erben der Profiteure dieser Politik feiern das nicht, sondern genießen und schweigen.

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Vom Jazz zum Riesling

So langsam verklingt die Musik im Kopf. Vier Tage Jazzfest sind schon recht nachhaltig, jedenfalls dann, wenn es sich um ein ausgesprochen spannendes Programm handelte.

Der Alltag ist nicht schön. Körper und Seele müssen sich an die zunehmende Kälte und Nässe gewöhnen, auch die frühe Dunkelheit schlägt ein wenig auf’s Gemüt. Die stumpfen Berliner haben die Chance verstreichen lassen, dem Energiekonzern Vattenfall in einem Volksentscheid ein paar Fesseln anzulegen, der alltägliche Verdrängungsterror gegen Mieter, mit dem ich mich sowohl als Journalist, wie auch  in einer örtlichen Initiative beschäftige, geht ungebrochen weiter, die kommende große Koalition baut ein Luftschloss und wirft eine Nebelkerze nach der anderen.

Höchste Zeit, mal wieder was Anständiges zu essen und zu trinken. Aber wenn man bei einem Weinhändler eine Riesling-Auslese von 1989 sieht, sollte man meinen, dass sie entweder unbezahlbar ist, oder nichts taugt. Weiterlesen

VI. Alles hat seine Zeit

Quo vadis Jazzrock, Mr. Scofield?
©Ali Gandtschi

Es sollte der krönende Schlusspunkt des Berliner Jazzfestes werden, und für so ein Vorhaben ist John Scofield eine sichere Bank. Vor über 30 Jahren machte sich der Gitarrist auf den Weg, um die Jazzwelt mit rockig-funkigen Grooves, weit gespannten und manchmal rasend schnellen Melodiebögen und einem im Jazz bislang unbekannten, angezerrten Sound aufzumischen. Er begleitete Miles Davis auf dessen Weg in die Elektrifizierung, suchte anschließend immer wieder nach neuen Klangsprachen für die Gitarre im Jazz, wagte sich an Neue Musik und an zeitgenössische Interpretationen alter Standards. Und wenn eine dieser Schleifen beendet war, kehrte er stets dorthin zurück, wo alles anfing. Auch jetzt ist es wieder so weit, seine aktuelle Formation „Überjam bietet den puren Funk-Rock-Jazz-Stoff mit allen bekannten Zutaten. Weiterlesen

V. Den Absprung verpasst

Es ist schon ein gewisser Kulturschock, wenn man sich gerade noch an den rohen Schlachtgesängen siegestrunkener Schalker Fussballfans beteiligt hat und dann in Michael Wollnys Wunderkammer eintaucht. Wenigstens der Geruch im Festspielhaus kam einem vertraut vor: Es müffelte wie in den Gängen des Olympiastadions penetrant nach Brat- bzw. Currywurst – eine sicherlich zweifelhafte Erweiterung des Cateringangebots der Berliner Festspiele.

In der Duo-Variante lebt die Wunderkammer von dem Überraschungseffekt, den der Einsatz diverser Tasteninstrumente mit sich bringt. Es wirkt zunächst verstörend und dann faszinierend, wie Wollnys Partnerin Tamar Halperin den barocken Sound eines Cembalos, diverse Glockenspiele und ein indisches Harmonium für Loops und die modale Skalenwelt des modernen Jazz einsetzt. Wollnys bereits bei „em“ zu beobachtende Vorliebe für fast maschinell klingende, manchmal recht rockige Figuren, clusterartige harmonische Gebilde und heftige pianistische Ausbrüche bekommt in dieser Konstellation ganz neue Farben. Manchmal gleitet dies allerdings arg ins Sphärische ab, und schließlich hat nicht jeder Jazzfreund ein Faible für esoterisch anmutende Klänge. Weiterlesen

IV. Lasst 100 Jazz-Blumen blühen

Am 2. Tag hatte das Berliner Jazzfest auf der großen Bühne eine gleichermaßen lehrreiche wie vergnügliche Veranstaltung zu bieten. Denn ein Münchener Musikprofessor und eine New Yorker Drumlegende können sich hervorragend ergänzen. Da zeigt sich die Kunstfertigkeit des Programmgestalters.

Wer hat eigentlich festgelegt, dass Improvisation auf der Bühne das entscheidende Element des Jazz sei? Improvisation kann schließlich auch im Kopf passieren und dann notiert werden, wie es bereits der große Altmeister des Jazz, Johann Sebastian Bach, eindrucksvoll demonstriert hat. Bei Michael Riessler wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Fixpunkt seiner Kompositionen für die Band Big Circle ist eine mit vorgestanzten Lochstreifen gefütterte Drehorgel. Um die dort programmierten Loops und Patterns herum gruppieren sich eine Rhythmusgruppe und ein strenger Bläsersatz, dennoch bleibt genug Freiraum für expressive Soloparts. Weiterlesen

III. Mit und ohne Seele

Ein cooler Style macht noch keine spannende Musik: Christian Scott in Pose
©Kiel Adrian Scott

One…Two…One.Two – und schon entfaltet sich ein satter, rockiger Klangteppich im ausverkauften Berliner Festspielhaus. Doch das wohlige Gefühl hält nicht lange an. Die „Stretch Music“ des Trompeters Christian Scott entpuppte sich recht bald als nicht sonderlich ambitionierter Gemischtwarenladen. Mal ein synkopierter Blues-Riff, dann ein bisschen cool und Modern-Jazzig, schließlich eine Prise Bebop, alles immer schön speedy, aber recht kalt.  Die hoch gelobte „Stil-Ikone“ Scott beherrscht sein Instrument, ohne bleibende Eindrücke zu hinterlassen. Fastfood auf hohem Niveau produziert auch seine Band, wenn man von dem furiosen Schlagzeugsolo von Cory Fonville absieht. Dazu ein in seiner Belanglosigkeit fast schon peinlicher Gastauftritt seiner singenden Ehefrau, ein zweifelhafter Sound (besonders der Bass) und ein quälend langer, langweiliger Blues als Zugabe – man hätte dem Jazzfest einen knackigeren Auftakt gewünscht.

Doch als anschließend Joachim Kühn den Auftritt seiner „Afrika-Connection“ mit einer knappen Piano-Figur und ein paar verminderten Ableitungen einleitet, ist die leichte Enttäuschung binnen Sekunden wie weggeblasen. Weiterlesen

II. “Ein bisschen jammen reicht nicht”

Einen Tag vor der offiziellen Eröffnung des Berliner Jazzfest gab es am Mittwoch abend noch ein Warm-up in Form einer Podiumsdiskussion und einer Filmvorführung im Festspielhaus. Natürlich ging es erneut um Afrika. Die Diskutanten beklagten den latenten Rassismus in Deutschland, die verzerrte Wahrnehmung des Kontinents, den Eurozentrismus in der Kulturrezeption und die nivellierende Wirkung der „World Music“-Welle. „Offenheit und Respekt“ forderte der künstlerische Leiter des Jazzfestes, Bert Noglik, denn „ein bisschen jammen mit afrikanischen Musikern reicht nicht“.  Der Pianist Hans Lüdemann, der seit Jahren mit westafrikanischen Musikern zusammen arbeitet, wandte sich gegen den Begriff „afrikanische Kultur“. Das sei ungefähr so, als wenn man einen bulgarischen Frauenchor und eine britische Heavy-Metal-Band unter europäische Kultur subsummieren würde.

Wie man sich als Musiker mit großer Offenheit und Ernsthaftigkeit einer fremden Kultur annähern kann, demonstrierte der anschließend gezeigte Dokumentarfilm Transmitting. Weiterlesen

I.Gute und schlechte Afrikaner

Man sollte ein Musikfestival nicht mit allzu vielen Vorschusslorbeeren überschütten. Schließlich kommt oft vieles anders, als man denkt. Aber dem künstlerischen Leiter des Berliner Jazzfestes, Bert Noglik, scheint im zweiten Jahr seiner Regentschaft ein ganz großer Wurf gelungen zu sein.  Dabei geht es weniger um die beeindruckende Ansammlung großer Namen, sondern um die musikalischen Projekte, in die diese Künstler eingebunden sind. Noglik habe ihm „nunmehr seinen dritten Traum erfüllt“, schreibt der große Pianist Joachim Kühn zu seinem Auftritt am Eröffnungsabend am 31. Oktober.

Auch in Berlin auf der Suche nach Trance: Joachim Kühn
Quelle:Sergei Gavrylov/ACT

In der Tat: In seiner Zeit als Leiter der Leipziger Jazztage hatte der Kulturwissenschaftler Kühn ein bahnbrechendes Zusammentreffen  mit dem Saxophonisten Ornette Coleman ermöglicht und einige Jahre später ein gemeinsames Projekt mit dem Leipziger Thomanerchor angestoßen. Nun trifft Kühn mit seinem Trio auf den Saxophonisten Pharoah Sanders, einen der wichtigsten lebenden Exponenten der spirituellen Dimension des afro-amerikanischen Jazz. Mit von der Partie sind ferner Perkussionisten aus West- und Nordafrika, die ihre Wurzeln in traditionellen Gefilden wie Voodoo und Gnawa haben.  Kühn sucht mit dieser Formation den „Trance-Zustand beim Spielen“. Und wenn „das Publikum gemeinsam mit uns abheben kann, ist unsere Mission erfüllt“.  Man darf gespannt sein. Weiterlesen

Die subversive Bratwurst

Wer wissen will, wie man mit Junkfood gegen Gentrifizierung kämpfen kann, muss schon bis zum Ende lesen.

Mit dem stadtsoziologischen Modebegriff Gentrifizierung wird eine Entwicklung beschrieben, bei der die Aufwertung vormals maroder Stadtviertel über kurz oder lang zur Verdrängung der alteingesessenen, meist ärmeren Bewohner führt. Oftmals bilden Studenten, Künstler und „hippe“ Gastronomen die Vorhut, wenn sie sich auf der Suche nach bezahlbaren Quartieren und Arbeitsstätten in diesen Vierteln niederlassen. Es folgen die Rucksacktouristen, die von der „ursprünglichen Atmosphäre“ begeistert sind und für die Hostels und Ferienwohnungen wie Pilze aus dem Boden schießen.  Auf den Zug springen dann noch mehr „hippe“ Gastronomen und (Bio)Einzelhändler auf, und dann kommen die Investoren und besorgen mit Luxusmodernisierungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen den Rest.

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Von Kotzbrocken, Helden und Wurzeln

Manchmal möchte man sofort in die Zeitung kotzen, die man gerade liest. So erging es mir am Sonntag, als ich – gefühlt das erste Mal seit zehn Jahren – den Berliner Tagesspiegel als Lektüre für die S-, und Regionalbahnfahrt nach Wandlitz erwarb. Schnell merkte ich, dass in dem wirtschaftsliberalen, pseudo-bildungsbürgerlichen Käseblättchen sogar die Bundesliga-Berichterstattung langweilig ist. Die Meinungsseite hatte es allerdings in sich. Eine in FDP-affinen Kreisen bekannte und beliebte Kolumnistin namens Ursula Weidenfeld durfte dort ihren ganzen asozialen und zynischen Rotz über Niedriglöhne ausschütten. „Wer sagt, dass würdige Arbeit erst da anfängt, wo sie ihren Mann oder ihre Frau ernährt (..) übersieht den Wert der Arbeit“, heißt es ihrer Suada gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit sei „an sich würdig“, da sie „Leben mit Sinn füllt.“ Daher sei Arbeit „auch dann würdig, wenn sie schlecht bezahlt ist“. Und viele Menschen würden eben „in einer Stunde keinen Gegenwert von 8,50 Euro erwirtschaften“.

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